Samstag, 23. Juli 2022

Friedenslage am 23.07.2022 (18:00:10)

Stellungnahme deutscher oder in Deutschland tätiger Strategieexpertinnen und –experten zur deutschen Politik angesichts des Ukraine-Krieges — Institut für Sicherheitspolitik an der Universität Kiel (uni-kiel.de)

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| Stellungnahme deutscher oder in Deutschland tätiger
| Strategieexpertinnen und –experten zur deutschen Politik angesichts des
| Ukraine-Krieges

Die Überschrift lässt vermuten, dass die Autoren/Unterzeichner im
Bereich der Militärwissenschaften tätig/erfahren sind. Sie müssten
Expertise in „Strategie" als der Wissenschaft von den „Gefechten zum
Zwecke des Kriege" sein. Ein Experte wäre jener, der Auskunft über die
Führung und Durchführung kleinerer und größere Gefechte in gegenwärtigen
Kriegen kann, und, da Strategie eine praktische Wissenschaft ist, solche
Gefechte und ihren Gebrauch entwerfen kann.

Schaut man sich die wissenschaftlichen Biografien und die Publikationen
der Autoren/Unterzeichner an, dann sind die meisten mit jenem
Zwischenbereich von Politik und Militär befasst, in dem es um Bündnisse,
Macht, Stationierungen, Konfrontationen etc geht, bei dem militärische
Kenntnisse zwar nützlich, aber oft nicht erforderlich sind. Es reicht
der große Blick für Freund und Feind.

Da „Strategie" aber - wie jeder Schach-Hobbyist weiß - damit zu tun hat,
den anderen mit geheimen Gedanken in unübersichtlicher Lage zu
übertricksen, muss jene Strategie, der sich diese Experten hingeben,
eine Wissenschaft sein, für die es eines besonders durchdringenden
Blick, mindestens aber einer besonderen Gabe bedarf. Auf solche Experten
muss man ebenso hören wie auf wissenschaftlich und praktisch besonders
erfahrene Ärzte und Architekten. - Könnt aber sein, dass es sich nur um
besonders talentierte, aber allemal gut bezahlte Rätselbrüder und
-schwestern handelt.

Insofern: Vielleicht Etikettenschwindel


| 14. Juli 2022
|
| Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 14.7.2022.
|
| Wir sehen mit großer Sorge, dass in der politischen Debatte in
| Deutschland zum Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine immer wieder
| Forderungen nach einer nicht näher definierten und sofortigen
| „politischen Lösung" oder nach einem „Waffenstillstand" um jeden Preis
| aufkommen. Der Wunsch nach einem baldigen Waffenstillstand und nach
| einer politischen Lösung ist nachvollziehbar, aber solange Russland die
| völlige Unterwerfung der Ukraine mit Waffengewalt durchsetzen will,

Die Strategieexperten kennen also die Kriegsziele Russlands. Und sie
kennen sie so genau, dass sie aus ihrer Kenntnis heraus Ratschläge geben
können. Nur entfalten sie ihre Kenntnisse nicht. Dennoch gilt ein
Dekret:

| besteht für eine seriöse diplomatische Lösung derzeit leider kein
| Spielraum. Auf keinen Fall darf die Souveränität und Freiheit anderer
| Völker Gegenstand westlicher Verhandlungsangebote sein. Die

Gemeint ist: Ein Friedensvertrag, in dem die westlichen Mächte die
Ukraine zwingen, Teile ihres Staatsgebietes an Russland abzutreten. Da
die Ukraine inzwischen ohne ständige Geld- und Materialzuflüsse von
außen als Staat nicht mehr lebensfähig wäre, ist es natürlich schwierig,
von ihr als einem souveränen Staat zu sprechen. Na gut, das gilt für
manche Staaten, „Souveränität" ist oft nur eine juristische Fiktion,
allerdings eine notwendige-nützliche.

„Souveränität von Völkern" ist jedoch eine eigenartige Formulierung. Im
Völkerrecht spricht von souveränen Staaten, gerade im Unterschied zu
Völkern. Ein Staat kann aus verschiedenen Völkern bestehen, die
gemeinsam an der Souveränität ihres Staates teil haben, aber selbst
nicht souverän sind. Sind die Völker /im Staat/ auch ihm gegenüber
souverän, können sie den Staat verlassen, wenn sie wollen. Nun käme es
nur noch darauf an, was unter Volk zu verstehen ist - dass die
Institutionen und die Bevölkerung der Krim die Ukraine verlassen
wollten, als der Zentralstaat auf einmal eine Regierung hatte, die
nicht verfassungskonform zustande gekommen war, kann mit diesem Ansatz
schwerlich kritisiert werden.

| Bundesregierung sollte ihre mittel- und langfristigen Erwartungen und
| Ziele verdeutlichen und besser kommunizieren, auf was sie sich
| vorbereitet. Notwendig ist eine stringente, nachvollziehbare Strategie,
| die öffentlich vermittelt wird.

Stimmt schon, trifft aber auf die Gesamtheit des Westens zu. Die Nato
hat auf ihrem Gipfel in Madrid zwar die Unterstützung der Ukraine
beschlossen, aber kein Ziel ihrer Ukraine-Politik benannt. Jede Menge
materieller und politischer Unterstützung, aber wohin das führen soll,
bleibt unbekannt. Mehr als die Unterstützung der Fähigkeit der Ukraine,
diesen Krieg zu bis zum Erfolg führen, ist in der Abschlusserklärung als
Ziel nicht benannt.

Das ist dasselbe wie: Gar kein Ziel. Jedenfalls keines, das politisch
formuliert und damit vermittelbar wäre. Auf ein Nichts kann aber niemand
warten, deshalb gibt es immer wieder Initiativen, die nach einem
politischen Ende des Krieges verlangen.

Wenn die Nato nicht weiß, wo sie hin will, können die Experten nicht
erwarten, dass die Bundesregierung das weiß und über die Medien ins
Wählervolk transportiert.

|
| Der Angriff Russlands auf die Ukraine stellt eine Zeitenwende dar, die
| in ihren Konsequenzen von Vielen immer noch nicht verstanden wird. Der

Unsere Experten werden uns also aufklären;-)).

| durch Russland ausgelöste Krieg bedeutet eine fundamentale Bedrohung der
| europäischen Sicherheit. Der Misserfolg der russischen Truppen

Hm, eine der Ursachen des Kriegs war doch die Weigerung des Westens,
Russland einen festen Platz in der europäischen Sicherheit, die die
Charta von Paris sie formuliert, einzuräumen, ja dieses
Sicherheitskonzept überhaupt zu verwirklichen. Der Krieg ist also
vielmehr Ausdruck der vorher schon nicht vorhandenen, nicht hinreichend
ausgebauten europäischen Sicherheit.

Was den Misserfolg der russischen Armee angeht: Im Westen schließt man
aus dem anfänglichen Angriff auf Kiew, dass Russland in einer
Blitzaktion die Regierung in Kiew auswechseln wollte, wobei
gleichzeitig auf die Unterstützung großer Teile der Bevölkerung gehofft
hätte. Es mag so gewesen sein, diese Strategie wäre gescheitert. Andere
sagen, dass diese Angriffe zur Tarnung und Täuschung unternommen worden
sind, damit russische Armee im Süden rasch Geländegewinne macht. Es mag
so gewesen sein oder auch anders herum. Auf jeden Fall haben diese
Truppen eine feste Verbindung zwischen der Krim und dem Donbass
geschaffen und dringen im Donbass vor, zwar langsam, aber, wie es
scheint, letztlich erfolgreich.

Ein (möglicher) anfänglicher Misserfolg hat zu stabilen Positionen
geführt. Den Ankündigungen der Regierung in Kiew, sie wollen nicht nur
zu den Einflussbereichen vom Februar zurück, sondern auch die Krim und
die Gebiete der Separatisten/„Volksrepubliken" glaubt eigentlich
niemand. Nach häufig zu lesender Auffassung ist die Wahrscheinlichkeit
groß, dass die russische Armee bis an den Dnepr zurückdrängt.

| verschafft aber der westlichen Politik Möglichkeiten der Einflussnahme
| auf die weitere Entwicklung, die nicht vertan werden dürfen.

Es ist also schon sehr mutig von den Experten, von einer gegenwärtigen
Schwäche Russlands auszugehen.

|
| Lageeinschätzung
|
| In unserer Lageeinschätzung gehen wir davon aus, dass der Angriffskrieg
| Russlands mehrere Jahre systematisch geplant und vorbereitet worden
| war.

Das könnte stimmen. Kriegsplanungen sind der Zweck militärischer
Stäbe. Und dass Russland wie schon die Sowjetunion einen Krieg so
schnell wie möglich auf das Gebiet des Gegners tragen will - die Lehre
aus 1941 - kann unterstellt werden. Einen Angriff der anderen Seite
braucht es dazu nicht unbedingt.

Was allerdings zu klären wäre, ist, wie es kam dass Russland mit einer
Truppe von ungefähr 200 Tausend Soldaten einen Staat mit einer doppelt
so starken Armee angriff. Seit Clausewitz gilt die Faustregel, dass der
Angreifer mindestens drei Mal so stark sein muss wie der
Verteidiger. Diese Regel kennen auch die sowjetisch erzogenen Generäle
der russischen Armee. Warum haben sie trotzdem angegriffen? Alles
Fehleinschätzung? Da werden spätere Militärhistoriker in 30 Jahren in
den Moskauer Archiven noch viele Fragen zu klären haben.

| Auslöser der russischen Aggressionspolitik war der Wunsch nach Festigung
| der Herrschaft einer kleptokratischen Nomenklatur. Aber die westliche

Diese Behauptung macht die Voraussetzung, dass die Ukraine als
(zukünftiges) Vorbild von Demokratie und Wohlstand die Russen dazu
bringen könnte, gegen ihr Herrschaftssystem auf zu begehren. Das ist
nicht eben plausibel: Die Ukraine hat im Schnitt der Bevölkerung einen
der niedrigsten Lebensstandarde Europas, das politische System ist
konkurrenzoligarchisch - das ist ein Unterschied zu Russland -, aber
eben nicht freiheitlich. Die Ukraine dürfte erst nach langen, sehr
langen von der EU angeleiteten Transformationen auf ein wirtschaftlich,
politisch und gesellschaftliches Niveau kommen, das weiter nach Osten
ausstrahlt, wenn überhaupt. Die russischen Eliten brauchten da keine
Eile zu haben, Putin würde es eh nicht mehr erleben.

| Staatengemeinschaft ist konfrontiert mit dem Wiederaufleben eines
| großrussischen Imperialismus, der auf die militärische Unterwerfung
| von

Die Vorgeschichte des Krieges, angefangen bei der Verabschiedung einer
auf der Charta von Paris durch den Westen in den 1990er Jahren, über die
diversen Schritte der Nato-Ostausdehnung über die Anerkennung des
illegalen Regierungswechsels 2014 in der Ukraine, ihre militärische
Anpassung an die Nato, die Ablehnung von von völlig Charta-konformen
Verhandlungen über den sicherheitspolitischen Status der Ukraine
usw. usf. wird einfach weggelassen.

Unsere Strategieexperten eben. Statt genauer Herleitung der gegenwärtige
Lage, wie Strategie sie bräuchte, nur ideologisches Geschwafel.

| Nachbarstaaten und die Zerstörung westlicher Gesellschaften,
| demokratischer politischer Systeme und internationaler Institutionen
| (NATO, EU) abzielt. Russlands Vorgehen stellt den ordnungspolitischen

Hier fehlt nur noch die Behauptung, dass Russland, wird es nicht am
Asowschen Meer aufgehalten, spätestens am Dnepr, bis zum Rhein vorstoßen
wird. (Obwohl es noch nicht mal in der Lage sein soll, Kiew
einzunehmen.)

| Gegenentwurf zur Europäischen Union dar, deshalb ist das, was in der
| Ukraine geschieht, für uns nicht einfach ein bilateraler Konflikt,
| sondern es geht auch um unsere freiheitliche Ordnung und um unsere
| Sicherheit.

Hier wird der Krieg in den von Trump/Pompeo ausgerufenen weltpolitischen
Großkonflikt von demokratischen und autoritären Staaten und
Gesellschaften eingeordnet. Die Ukraine der ethnizistischen Gesetzgebung
mit starkem banderistischen Einfluss in die demokratischen Front
einzuordnen - das ist schon mutig. Oder einfach nur blöd.

| Wir gehen davon aus, dass der russische Überfall zu einem Zeitpunkt
| erfolgte, wo die Modernisierung der russischen Streitkräfte einen Stand
| erreicht hatte, dass dem Kreml eine größere Militäraktion möglich

Na, dass die russische Führung den Zustand ihrer Streitkräfte auf einem
bestimmten Niveau einordnete, - wer hätte das gedacht, würden es ihm
die Experten nicht sagen.

| erschien. Das Ultimatum Russlands an die NATO und an die USA im Dezember
| 2021 war ein klares Signal, dass eine größere Militäroperation
| bevorstand.

Nein. Noch nicht einmal Selenskiy hat es damals so gesehen. Und die
westlichen Führer auch nicht. Denn dann wären sie nicht in Sachen des
Verhältnisses Ukraine/Nato und wegen Minsk2 nicht mit Nichts nach Moskau
gefahren und hätten dann auch noch geglaubt, die Verhältnisse beruhigt
zu haben.

Es gab vielmehr die Vorstellung, man könne Russland bei seinem Versuch,
die Nato/Ukraine-Sache und Minsk2 zu klären, irgendwie beliebig lange
hinhalten, es würde schon nichts passieren.

|
| Der russische Überfall auf die Ukraine verlief allerdings alles andere
| als erfolgreich. Es zeigten sich massive Fehler bei der operativen
| Planung, im Bereich Logistik und bei der Kommunikation. Die mit
| modernsten Flugzeugen ausgerüstete Luftwaffe blieb weitgehend

Immerhin dominiert diese wirkungslose Luftwaffe den Luftraum.

| wirkungslos. Die nominell überwältigend große russische
| Schwarzmeerflotte musste neben dem Verlust ihres Flaggschiffs durch
| Anti-Schiffs-Raketen zahlreiche teils demütigende Verluste

Diese russische Marine - eine ukrainische gibt es faktisch nicht,
seitdem der größte Teil 2014 zu den Russen übergelaufen ist - blockiert
immerhin erfolgreich jeden Militärnachschub über See.

| hinnehmen. Insgesamt wehrten sich die Ukrainer viel effektiver als
| vorhergesagt.
|
|
| Das Invasionspotential der russischen Streitkräfte steckte im Februar
| zum Großteil (zwei Drittel) in den etwa 120 bataillonstaktischen
| Gruppen, die in die Ukraine einmarschierten. Diese Truppen sind seither
| drastisch dezimiert worden und wurden teilweise durch Reservisten
| aufgefüllt, deren Kampfkraft weit hinter der von Berufssoldaten
| zurückbleibt. Die Umstellung der Kriegsziele im April signalisierte,
| dass mit begrenzten Kräften versucht werden sollte, zumindest im Donbas
| eine Entscheidung zugunsten des Aggressors herbeizuführen. Mittels des
| unablässigen Einsatzes russischer Artillerie, gegen die die Ukraine
| keine wirklich wirksamen Waffen hat, ist es den russischen Kräften
| binnen zehn Wochen gelungen, begrenzte Geländegewinne unter enormen
| eigenen Verlusten zu machen. Diese Gewinne waren möglich, weil Russland
| Kräfte auf eine überschaubare Region konzentrierte und dort vor allem
| seine Überlegenheit im Bereich der Artillerie zum Tragen bringen konnte.
| Die Ukraine hat dabei erhebliche Verluste hinnehmen müssen. Die Gefahr
| besteht, dass Russland versucht, in einem lang andauernden
| Abnutzungskrieg die Oberhand zu bekommen. Diese Strategie kann nur
| aufgehen, wenn es Russland gelingt, die westliche Unterstützung für die
| Ukraine zu schwächen, etwa indem durch das Herunterfahren der
| Erdgasversorgung eine Rezession – vor allem in Deutschland – ausgelöst
| wird. Diese Gefahr muss heute benannt und angegangen werden.

Langer Rede kurzer Sinn: Momentan sind die Russen erfolgreich, ohne
Unterstützung aus dem Westen dürfte Russland siegen. Deshalb muss der
Westen was machen, insbesondere Deutschland.

|
| Optionen westlicher Politik
|
| Die westlichen Staaten – und in Sonderheit die Bundesregierung – dürfen
| sich in dieser kritischen Phase nicht dazu hinreißen lassen, die
| schwierige Lage durch schnelle und vermeintlich politische Schritte
| lösen zu können, die im Ergebnis die Lage verschlimmern werden. Vielmehr
| ist eine Strategie notwendig, die auch über den unmittelbaren Krieg
| hinausweist und mindestens die folgenden Elemente enthalten sollte:

Eine Strategie deutscher Regierungen wäre zunächst einmal auf das
Grundgesetz verpflichtet. Art 1 sagt:

,----
| Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
|
| Art 1
|
| (1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu
| schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
|
| (2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und
| unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen
| Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
|
| (3) Die nachfolgenden Grundrechte binden Gesetzgebung, vollziehende
| Gewalt und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht.
`----

Solche Inhalte scheinen aber nur zu gelten, wenn man die eigene Position
zur Seite der Guten, der Demokratie, gegen die der Bösen, der Autokraten
einordnet. Praktisch-unmittelbar hat das keine Bedeutung. Es wäre dann
Leitlinie einer Politik gewesen, die den Ausbruch des Kriegs mit den
geforderten Zugeständnissen, die für den Westen praktisch keine
Bedeutung haben - keine Nato in der Ukraine, Minsk2 - verhindert
hätte. Man muss es klipp und klar sagen: Der Krieg war verhinderbar, mit
so gut wie nichts an Einsatz und Kosten.

(Einwand: Wenn es um nichts ging, warum hat Russland dann den Krieg
angefangen? -

Für Russland ging es darum, ob demnächst bei Kiew Raketen, die in
minutenschnelle Moskau erreichen, stationiert werden können. Dann
allerdings ist die russische Behauptung, die Bevölkerung von Donezk und
Luhansk sei zu schützen, nur ein Nebengrund, ein Teil von politischer
Inszenierung. Der russische Angriff über die bestehenden Grenzen der
„Volksrepubliken" hat das Leiden und Sterben dort ja nicht vermindert,
ihm vielmehr ein Vielfaches in den anderen Teilen der Ukraine
hinzugefügt. Das Individuum ist nicht die erste Sorge dieser
Kriegsführung, sondern Einfluss und Macht sind es.)

Aber der Krieg wurde (auch und gerade) im Westen eben nicht unter dem
Blickwinkel des Schutzes der vielen einzelnen Menschen betrachtet,
sondern unter Einflussgesichtspunkten: Russland darf einfach mit seinen
Zielen, Absichten und Wünschen nicht durchkommen, Punkt, Schluss,
aus. Russland hat gefälligst nachzugeben.

Genau diese Haltung zeigen unsere Strategie-Experten weiterhin. Was
einmal nicht geklappt hat, muss endlich zum Klappen gebracht werden.

|
| 1. Der westlichen Staatengemeinschaft bleibt derzeit keine andere
| Option, als der Ukraine militärisch und wirtschaftlich massiv unter die
| Arme zu greifen. Militärisch sind vor allem Feuerkraft und
| Gegenangriffsfähigkeit ihrer Streitkräfte zu stärken. Es gilt, durch

Feuerkraft nicht unbedingt Gegenangriffsfähigkeit. Die US-Wunderwaffen,
von denen man jetzt hört, können zwar Lager und Sammlungsräume im
Hinterland zerstören, aber damit sind nur Voraussetzungen für eine
Fähigkeit zum Gegenangriff gegeben.

Erfolgreiche Gegenangriffe bräuchten eine eigene Luftwaffe, die zusammen
mit einer Artillerie über verschiedene Distanzen den Weg frei
schießt und eine Infanterie - etliche andere Waffengattungen wie
Pioniere nicht zu vergessen, um das gewonnene Terrain in Besitz. Solch
ein ukrainische Luftwaffe gibt es nicht. Und die ukrainischen Fußtruppen
des Donbass werden inzwischen mit der Territorial-Verteidigung aus der
Westukraine gefüllt.

(Territorial-Verteidigung, wie dem TV zu entnehmen: die Angehörigen
haben eine Ausbildung von einer Woche, vielleicht etwas mehr. Wer in den
Jahren der Wehrpflicht bei der Bundeswehr war, weiß, dass der Rekrut
in dieser kurzen Zeit höchstens lernt, wo bei einem Gewehr vorn und
hinten ist, niemals jedoch das Verhalten im Gelände hinreichen üben
kann.)

| externe Unterstützung die Ukraine zu befähigen, einen Diktatfrieden
| durch Erhöhung der Kosten für Moskau abzuwenden und Zeit für die
| Wirkungsentfaltung der Sanktionen zu gewinnen. Ansonsten drohen
| weitere

Im Augenblick sieht es eher danach aus, dass Russland seine Ziele
langsam erreicht und dabei ist, seine Friedensbedingungen hoch zu
schrauben.

| gravierende Kriegsverbrechen und Zerstörungen in der Ukraine und ihre
| dauerhafte Schwächung, möglicherweise sogar ihre Unterwerfung. Sollte
| die Ukraine diesen Krieg verlieren, muss damit gerechnet werden, dass
| Russland weitere regionale Kriege plant, um die europäische

Klar, Russland will Polen erobern.

| Sicherheitsordnung zu zerstören. Insbesondere müssen das Niveau und
| die

Es gibt eine europäischen Sicherheitsordnung, die gestört werden könnte,
nur in Ansätzen. Was immer nach der Charta von Paris gestaltet worden
ist, ist durch die konfrontative Nato-Osterweiterung beeinträchtigt
worden. Der gegenwärtige Krieg ist der lang hervor gesehene Zusammenstoß
dieser beiden Konzepte.

| Quantität westlicher Waffenlieferungen an die Ukraine angehoben werden.
|
| 2. Die derzeitige russische Schwäche bietet der westlichen Politik
| Optionen, die auszulassen angesichts der weitreichenden Zielsetzungen
| Moskaus fahrlässig wäre. Die enorme Abnutzung der russischen Berufsarmee
| dürfte erst nach einigen Jahren wieder behoben sein. Dieser Prozess kann
| durch die strikte Aufrechterhaltung westlicher Sanktionen verlangsamt
| werden. Dies betrifft vor allem Exporte von Technologien und
| Materialien, die für die Rüstungsindustrie Russlands bedeutsam sind.

Das kann sein, das kann aber auch nicht sein.

|
| 3. Der Angriff Russland zeigt, dass auch Mitglieder der NATO
| Objekt einer militärischen Aggression werden können. Deshalb muss der

Ja, natürlich kann jeder Staat jederzeit Aggressionsobjekt jedes anderen
Staates sein, auf der ganzen Welt. Nur folgt daraus nicht, dass Russland
einzelne Nato-Staaten angreifen will

| Aufbau einer Verteidigungsstrategie für den Ostseeraum (insbesondere für
| Polen und die baltischen Staaten) hohe Priorität haben. Die NATO hat auf
| ihrem letzten Gipfeltreffen entsprechende Beschlüsse gefasst, die rasch
| umzusetzen sind. Die Bundeswehr muss hier eine führende Rolle einnehmen.
|
| 4. Die westlichen Regierungen, insbesondere die Bundesregierung,
| müssen sich auf die Folgen der zu erwartenden Knappheit bei Erdgas
| einstellen und rechtzeitig die wirtschaftlichen und sozialen Folgen
| abmildern. Die nächsten zwei Jahren werden sehr schwierig werden und es
| bedarf einer politischen Einstimmung darauf und einer konzertierten
| Aktion aller relevanten gesellschaftlichen und politischen Kräfte, die
| hilft, durch die Krise zu kommen.

Es bedarf vor allem intensiver Bitten und Gebete Richtung Kreml: „Putin,
wir wollen Dir schaden, wo immer wir können, liefere uns bitte die
Energie, das Gas dazu! Danach werden wir Deinen Gashahn abdrehen, Du
kannst dann sehen, wo Du damit bleibst, musst nur noch ein paar ganz
wenige Jahre brav sein, und dann haben wir Dich mit Deiner Hilfe
ruiniert!" - Für wie blöd halten die Autoren die russische Führung
eigentlich?

|
| 5. Westliche Staaten müssen sich durch Dekarbonisierung ihrer
| Wirtschaften im Sinne des Green Deals der EU, alternative Energieträger
| (LNG, Atomkraft) und Routen/Pipelines (EastMedPipeline, Southstream
| Lite, TAP, TANAP) sowie die Revitalisierung von Großprojekten wie
| Desertec vollständig von fossiler russischer Energie unabhängig
| machen.

Und bis dahin muss Putin uns aber das Gas liefern! Noch mal gefragt: Für
wie blöd halten die Autoren die russische Führung eigentlich?

|
| 6. Der Angriff Russlands auf die Ukraine muss auch zu einer
| Neubewertung der globalen Prioritäten führen. Dieser Angriff und die
| kaum verhüllte Sympathie Chinas für die Position Russlands lassen
| erkennen, dass wir uns in einer Phase befinden, wo sich die
| demokratischen Staaten einer Allianz machtvoller autoritärer Regime
| gegenübersehen, die die freiheitliche, regelbasierte und auf der
| Zusammenarbeit bei der Lösung globaler Probleme beruhende internationale
| Ordnung beseitigen wollen. In diesem Zusammenhang sollte eine

Könnte ja auch sein, dass diesen Staaten nur nicht gefällt, dass Raketen
unmittelbar vor ihren Grenzen stationiert werden. Könnte ja sein ....

| Neuauflage des TTIP zwischen der EU und den USA zur Stärkung der
| transatlantischen Wirtschaftszone stärker verfolgt werden. Auch gilt es,
| die Arbeitsteilung innerhalb der NATO zu stärken. Europa muss einen
| größeren Anteil an der Abschreckung russischer Militärmacht übernehmen,
| weil die USA zunehmend im indopazifischen Raum gefragt sind.

Da gibt es so manches Gehacke: Die einen wünschen die europäischen
Nato-Armeen als Hilfstruppen der USA in Europa. Wie sehr sich die USA
für das Schicksal der mit den USA verbündeten Staaten und Armeen
interessieren, haben sie in Afghanistan gezeigt. Im Zweifel überlässt
man diese Freunde sich selbst und ihrem Elend. Wenn der Krieg in der
Ukraine schlecht läuft, dürften die USA nicht zögern, die Ukraine ihrem
Schicksal zu überlassen. - Andere wollen genau wegen dieser Gefahr eine
größere „strategische Souveränität" Europas, für die die
militärtechnischen Möglichkeiten allerdings zu fehlen scheinen.

|
| Die westliche Staatenwelt hat realistische Optionen, die es erlauben,
| den Wiederaufwuchs der bedrohlichen russischen Militärmacht zu begrenzen
| und der Ukraine eine militärische Position zu verschaffen, aus der
| heraus diese einen Waffenstillstand zu akzeptablen Bedingungen schließen
| kann. Es wäre gefährlich, in Defätismus zu verfallen und zu glauben, mit
| einer übereilten „diplomatischen Lösung" könnte man Frieden
| schaffen. Eine derartige Politik würde Putin signalisieren, dass
| militärische Invasionen mit Landgewinnen, der Auslöschung souveräner
| Staaten und geopolitischer Machterweiterung belohnt werden.

Das mag ja alles stimmen. Nur haben unsere Strategie-Experten nichts
angeboten, das über das allgemeine Gerede ihrer politischen Ecke hinaus
geht. Gar nichts.
`----

Ein Dokument der intellektuellen und moralischen Hilflosigkeit. Kein
Sirius, sondern tranige Funzel.

Die FAZ hat den Text nach dem ersten Tag hinter den Paywall
geschoben. Das hat verständliche Gründe.