Friedenslage heute
Über das viel angesprochene Macron-Interview mit dem
Nato-Hirntod.
https://www.economist.com/europe/2019/11/07/emmanuel-macron-warns-europe-nato-is-becoming-brain-dead,
https://www.economist.com/europe/2019/11/07/emmanuel-macron-in-his-own-words-english
Zum Inhalt:
Differenzen zwischen Frankreich und den USA sind so neu nicht. In den
1960er Jahre gab es keine Krise, weil Frankreich eine Wandlung der
amerikanischen Nuklearstrategie nicht mitmachen wollte: Die Wandlung von
der "Massiven Vergeltung" zur Flexible Response. Weil eine
Nuklearstrategie, die FJ Strauß so beschrieb "Der erste Gewehrschuß an
der Zonengrenze wird automatisch den 3. Weltkrieg auslösen." [1] nicht
eben glaubwürdig, weil die USA nicht die geringse Lust hatten, wegen
irgendwelcher unübersichtlichen Bataillen in Europa atomaren Selbstmord
zu machen, fürchtete Frankreich und große Teile der westdeutschen
Regierung, dass die USA sich von einem Krieg in Europa abkoppeln
wollen, sie den Art. 5 des NATO-Vertrags also insgeheim schon gekündigt
hätten.
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| Artikel 5
|
| Die Parteien vereinbaren, daß ein bewaffneter Angriff gegen eine oder
| mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie
| alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, daß im Falle eines
| solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel
| 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der
| individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den
| Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen
| unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die
| Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die
| sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen
| Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten.
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Also sann man darüber nach, wie man selbst den Atomkrieg im Falle einer
bewaffneten Auseinandersetzung in Gang setzen könnte. Das Frankreich de
Gaulles schuf die "Force de Frappe", eine eigene kleine Atomstreitmacht,
mit der es die Welt in Brand stecken können wollte, ohne die USA zu
fragen. Dieser Weg war für Westdeutschland versperrt, die USA setzen die
militärischen Grenzen. Man sprach von einem geheimen Deal zwischen den
USA und der UdSSR: Wenn Ihr Euren Bündnispartnern keine Atomwaffen
liefert oder ihnen erlaubt, machen wir es auch nicht. Trotz der Wünsche
der Bundesregierung nach eigenen Atomwaffen[3], der Weg war nicht
möglich. Es gab also nur zwei Möglichkeiten: Sich an die französischen
Atomwaffenpläne anhängen, um eines Tages über sie mitbestimmen zu
können, oder sich irgendwie an die US-amerikanischen Atomwaffen
ranzuschleichen. Die Auseinandersetzung über diese beiden Wege bestimmte
große Teile der außenpolitischen Debatte in der ersten Hälfte der 1960er
Jahre, es gab unter den deutschen Außenpolitikern "Gaullisten" und
"Atlantiker". Sie endete für Frankreich mit dem faktischen Rückzug aus
der Nato, für die BRD mit der "nuklearen Teilhabe" an der
US-Atommacht[4], ein kurioses Ding: Deutschland und einige andere
Nato-Staaten glauben, sie könnten über Atomwaffeneinsätze mitbestimmen,
wenn ihre Luftwaffen bereit und in der Lage sind, US-Atombomben auf
sowjetische/russische Ziele zu werfen.
Dieser Konflikt scheint ein Muster jener Krise, von der Macron in dem
Interview spricht.
Macron: Den USA sind die EU, sind Europa gleichgültig. Das zeigt sich in
außenpolitischen und militärischen Handlungen der USA rundum in der
Welt.
,----Google-Übersetzungen
| Der ultimative Garant, der Schirm, der Europa gestärkt hat, hat nicht
| mehr das gleiche Verhältnis zu Europa. Das bedeutet, dass unsere
| Verteidigung, unsere Sicherheit, Elemente unserer Souveränität neu
| überdacht werden müssen.
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| Ich denke, das erste, was zu tun ist, ist, die militärische Souveränität
| zurückzugewinnen. Ich habe die europäischen Verteidigungsfragen in den
| Vordergrund gerückt, sobald ich auf europäischer und auf
| deutsch-französischer Ebene mein Amt angetreten habe. Beim
| Deutsch-Französischen Ministerrat am 13. Juli 2017 haben wir zwei
| Großprojekte gestartet: den Panzer und das Flugzeug der Zukunft. Alle
| sagten: „Das schaffen wir nie.“ Es ist sehr schwierig, aber wir machen
| Fortschritte, es ist möglich.
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| Ich möchte hinzufügen, dass wir irgendwann eine Bilanz der NATO ziehen
| müssen. Meiner Meinung nach erleben wir derzeit den Hirntod der
| NATO. Wir müssen klar sein.
|
| „Der Hirntod der NATO?“
|
| EM: Sehen Sie sich nur an, was gerade passiert. Sie haben Partner im
| selben Teil der Welt und Sie haben keinerlei Koordination bei der
| strategischen Entscheidungsfindung zwischen den Vereinigten Staaten und
| ihren NATO-Verbündeten. Keiner. Sie haben eine nicht koordinierte
| aggressive Aktion eines anderen NATO-Verbündeten, der Türkei, in einem
| Bereich, in dem unsere Interessen auf dem Spiel stehen. Es gab weder
| eine NATO-Planung noch eine Koordinierung. Es hat nicht einmal eine
| NATO-Dekonflikt gegeben. ... Aber strategisch und politisch müssen wir
| erkennen, dass wir ein Problem haben.
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,----
| Wir sind in den Konflikt eingetreten, um gegen Daesh zu kämpfen. Das
| Paradoxe ist, dass sowohl die amerikanische Entscheidung als auch die
| türkische Offensive dasselbe Ergebnis erzielt haben: Die Opferung
| unserer Partner, die vor Ort gegen Daesh kämpften, der syrischen
| demokratischen Streitkräfte [eine von syrischen Kurden dominierte Miliz]
| ist das entscheidende Thema. Aus strategischer und politischer Sicht ist
| das, was passiert ist, ein großes Problem für die NATO. Dies macht zwei
| Dinge auf militärischer und strategischer Ebene umso wichtiger. Erstens:
| Die europäische Verteidigung - Europa muss in Bezug auf militärische
| Strategie und Fähigkeiten autonom werden. Und zweitens müssen wir einen
| strategischen Dialog mit Russland wieder aufnehmen, ohne naiv zu sein
| und der einige Zeit in Anspruch nehmen wird.
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Nur so viel Text aus dem Interview. Vielleicht kann man es so
zusammenfassen: Es gibt den einen, allen gemeinsamen Feind nicht mehr,
der für Nato konstitutiv war. Stattdessen gibt es viele
Herausforderungen an allen möglichen Orten der Welt, an der jeder Staat
seine Interessen selbst definiert, ob in einem Bündnis oder nicht. Die
USA nehmen dabei auf europäische Interessen keine besondere
Rücksicht. Daher ist Europa (gemeint ist die EU), gezwungen, eine eigene
politische und vor allem militärische Souveränität aufzubauen, um
unabhängig von den USA seine Interessen vertreten zu
können. Militärische Souveränität = gemeinsame Rüstungsprojekte und
gemeinsame Streitkräfte. Gleichzeitig will Macron die innere Spaltung
Europas in den Nord- und Südländer überwinden und durch eine andere
Gesellschaftspolitik in der ganzen EU die Mittelschichten wieder so
stabilisieren, dass die populilistischen bis rechtsextremen Strömungen
wieder zurück gedrängt werden.
Die Reaktionen aus Deutschland lassen erkennen, dass man zwar einerseits
die EU militärisch nutzen und auch stärken will, andererseits weiterhin
am engen Bündnis mit den USA und an der Konfrontation mit Russland
festhalten will, eine Spagat-Politik.
Die Bundesregierung will dieses "Zugleich" ausweiten:
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/neue-bundeswehrmission-in-afrika-und-asien-geplant-a-1296655.html
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| Die Bundeswehr bereitet sich auf zwei neue Auslandsmissionen in Afrika
| und Asien vor. Frankreich hat nach SPIEGEL-Informationen Deutschland
| gebeten, sich am Aufbau einer neuen Kommandoeinheit in Mali zu
| beteiligen. Im Zuge der Mission "Tacouba" ("Säbel") sollen ab dem
| kommenden Jahr malische Soldaten zu Spezialkräften ausgebildet
| werden. ...
|
| Noch umstritten ist der Plan, eine deutsche Fregatte ins Südchinesische
| Meer oder die 180 Kilometer breite Meerenge zwischen Taiwan und dem
| chinesischen Festland zu entsenden.
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Mit Frankreich zusammen in Afrika, gemeinsam mit den USA gegen
China....
Wer weiß, wie die Gegensätze zwischen den USA und EU-Europa sich
entwickeln. Macron geht davon aus, dass sie sich sehr schnell vertiefen
können, weshalb EU-Europa sich wirtschaftlich wieder rappeln müsse,
technisch weiter an der Spitze bleiben müsse, sein Militär verstärken
müsse und zu einem Agreement mit Russland kommen müsse. Diesen
Richtungsangaben fehlt die Konkretion, aber das ist in einem Interview
wohl auch nicht möglich. Deutschland spielt nur halb mit. Vielleicht: In
Gefahr und Not ist der Mittelweg der Tod?
Auf jeden Fall distanziert sich Berlin nicht von der US-Politik.
Noch ein paar Kommentare
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/heiko-maas-sicherheit-fuer-europa-gastbeitrag-des-bundesaussenministers-a-1295735.html
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/juergen-trittin-zur-nato-antwort-auf-gastbeitrag-von-heiko-maas-a-1296267.html
https://www.spiegel.de/politik/ausland/nato-macrons-forderungen-nach-konsequenzen-sind-richtig-a-1295594.html
https://www.inforadio.de/programm/schema/sendungen/int/201911/09/387081.html
Im Ostseeraum sieht es übrigens nicht nach einem "Hirntod" der Nato
aus. Und in Mitteleuropa auch nicht, Stichwort Defender 2020.
Fußnote(n)
[1] https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43067973.html
[2] https://www.nato.int/cps/en/natohq/official_texts_17120.htm?selectedLocale=de
[3] https://www.welt.de/geschichte/article180216424/Schon-Konrad-Adenauer-wollte-Atomwaffen-fuer-die-Bundeswehr.html
[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Nukleare_Teilhabe,
https://en.wikipedia.org/wiki/Nuclear_sharing