Sonntag, 20. März 2022

Friedenslage am 20.03.2022 (15:36:17)

https://www.sicherheitneudenken.de
Die Initiative Sicherheit neu denken ist eine Initiative der Evangelischen Landeskirche in Baden.

Von der Konfrontation, dem Krieg, zu gemeinsamer Sicherheit
https://www.sicherheitneudenken.de/media/download/variant/273132/snd-impulse-fuer-eine-entschlossene-und-besonnene-reaktion-auf-putins-krieg-19.03.2022.pdf
Umfangreiche Materialsammlung



„Wieso wir Kriege führen"
https://www.nzz.ch/gesellschaft/wieso-wir-kriege-fuehren-ld.1675138

,----
| Lebow hat in seinem Buch «Why Nations Fight» alle Kriege zwischen
| Staaten seit 1648 untersucht und kommt zum Schluss: Die meisten Kriege
| sind das Resultat von Kränkungen. Er sagt, Nationen seien, wie einzelne
| Menschen, vom Streben nach Anerkennung motiviert. So lasse sich auch der
| gegenwärtige Krieg in der Ukraine verstehen.
`----
Lesenswert



Ein anderer Zugang zur selben Frage: Warum dieser Krieg?
„Streit um John Mearsheimer: Er sah den Ukraine-Krieg kommen"
https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/wladimir-putin-die-nato-und-der-krieg

,----
| In Moskau glaubte keine ernst zu nehmende Stimme des
| sicherheitspolitischen Establishments – das geschlossen hinter einer
| russischen Großmachtpolitik steht –, dass Putin tatsächlich in den Krieg
| ziehen würde. Und zwar nicht etwa, weil diese Leute keinen Blick für die
| Logik der Macht hätten, sondern gerade weil sie das alles so gut
| verstehen. Sie sahen keinen guten Grund, die Risiken, Schäden und
| Unwägbarkeiten eines offenen Krieges in Kauf zu nehmen. Und dessen
| bisheriger Verlauf scheint ihnen recht zu geben.
|
| Menschliche Moral und internationaler Legalismus bilden den einen
| gewichtigen Grund, gegen Kriege zu sein. Der andere aber besteht darin,
| dass der Krieg zumindest in den vergangenen 100 Jahren ganz einfach
| keine guten Ergebnisse geliefert hat. Jenseits der nationalen
| Befreiungskriege fällt es schwer, auch nur einen Angriffskrieg zu
| finden, der selbst im Sinne derer, die ihn angefangen haben, die
| gewünschten Resultate gezeitigt hat.
`----
Warum führt Putin diesen - politisch letztlich aussichtslosen - Krieg?

Wie schon mal hier gesagt: Russland mag diesen Krieg militärisch
gewinnen, politische kann es ihn nur verlieren.

Schon die ultimativen Vertragsentwürfe vom 17.12.2022
http://russland-ticker.de/russische-vertragsentwuerfe-fuer-die-usa-und-nato
mussten irritieren: Wie konnte Russland meinen, die Nato zur
Rückwicklung der Nato-Osterweiterungen und den weitgehenden Rückzug der
USA aus Europa veranlassen, womöglich gar zwingen zu können? Die USA und
die Nato antworteten vorhersehbar im Bewusstsein ihrer Kraft, dass sie
vielleicht über die Rüstungskontrollmaßnahme sprechen könnten, aber über
mehr nicht. Vor allem wollten sie nicht über das zukünftige Verhältnis
der Ukraine zur Nato sprechen. Eine Natomitgliedschaft lag bekanntlich
eh nicht an. Und warum sollten diese Staaten mit Russland über die viel
komfortablere Möglichkeit sprechen, die Ukraine und ihre Armee so weit
wie möglich nach Standards umzubauen, damit sie letztlich eben doch
faktischer Nato-Teil wird? Was hatte Russland denn seinerseits
anzubieten? Gar nichts.

Russland war ja noch nicht mal in der Lage, die „Volksrepubliken"
Lugansk und Donezk zu schützen. Die militärisch immer stärker werdenden
Ukraine war nicht bereit, den Krieg in der Ostukraine zu einem frozen
conflict umzuwandeln, sie hielt ihn heiß.

Putin stellte Ultimaten und die andere Seite nahm ihn nicht für
voll. Sie unterstellte die Rationalität des Underdogs, der sich in
kluger Abschätzung seiner Möglichkeiten letztlich doch nicht
traut. Deutlich wurde das, als Scholz sein Reisegepäck sortierte: Zur
Ukraine und der Nato ein Witzchen über Lebenszeiten und Dienstalter,
wegen des Donbass brachte er ein 2015 schon einmal gescheitertes
Vorhaben zur Gesetzgebung in der Rada mit. Putin dürfte sich von Scholz
veralbert gefühlt haben und er ließ gleichzeitig ein Parlament in Moskau
die Forderung nach Anerkennung der Donbass-Republiken beschließen.

Kiew ignorierte diese (völkerrechtlich belanglose) Anerkennung,
verstärkte vielmehr das Feuer.

Man muss in den westlichen Führungseliten der Meinung gewesen sein, dass
man Kriegsgefahren weiterhin gefahrlos ignorieren könne. Zwar hatten die
Geheimdienste solche russischen Truppenaufmärsche an der Grenze zur
Ukraine gemeldet, die sich nicht wie Übungs- und Manövertruppen
verhielten. Aber für einen erfolgreichen Angriff auf die Ukraine waren
es viel zu wenig. (Womit man recht hatte, aber anders, als man dachte.)

In Russland selbst glaubten zu diesem Zeitpunkt auch jene, die einen
guten Draht zum Kreml haben, nicht an einen Krieg. Und trotzdem kam er,
genauer gesagt: Putin befahl den Angriff.

Ein Krieg - oder nur ein „Einsatz" - zur Entlastung der
Donbass-Republiken wäre verständlich gewesen. Russische Truppen, die die
ukrainischen Truppen so weit weg gedrängt hätten, dass sie nicht mehr
täglich nach Donezk hinein schießen können und solche Gestalten
https://www.dailymail.co.uk/news/article-10477277/Ukraines-deadliest-female-sniper-10-confirmed-kills-vows-Putin-again.html
beschäftigungslos geworden wären.

Aber Putin wollte das Problem grundsätzlich lösen, radikal, an der
Wurzel. Deshalb ein Angriff auf die ganze Ukraine. Ziel schien - mehr
kann man nicht sagen, Vermutungen - zu sein, die ukrainische Regierung
durch eine Blitzaktion zu entmachten und auszuwechseln. Aber die Landung
von Fallschirmjägern scheiterte schon gleich zu Anfang. Die für einen
breiten Angriffskrieg viel zu geringe Truppenüberlegenheit - da nimmt
man immer noch die alte Clausewitz-Formel von 3 Angreifern gegen 1
Verteidiger - ließ die russischen Angriffe an mehreren Fronten stoppen,
nur im Südosten, am Asowschen Meer und Richtung Odessa gibt es
nennenswerte Geländegewinne.

Es sieht nicht so aus, als könnte Russland diesen Krieg militärisch
erfolgreich beenden. Oder ging es gar nicht darum, sondern die andere
Seite irgendwie an den Verhandlungstisch zu bekommen? Weil
Zugeständnisse zu erwarten waren/sind?


Wie dem auch sei - man stelle sich vor, zu welchem Ziel könnte sich
jetzt russische Überlegenheit im Krieg durchsetzen?

Angenommen: Russland erobert die ganze Ukraine. Selbst in der
Sowjetunion gab es nach 1945 noch einen jahrelangen Krieg in der
nationalistischen Westukraine. Die Gedanken der Bandera-Nationalisten
haben selbst unter der Herrschaft im sowjetischen Realsozialismus
überdauert, im Kapitalismus putinscher Prägung werden sie allemal
überleben. Man muss einen lang anhaltenden verdeckten Krieg für möglich
halten.

Eine neue Regierung in Kiew, die nicht unbedingt russisch orientiert
sein müsste, aber doch neutral zur Nato, hätte auf die Dauer nur eine
Chance, wenn sie für einen demokratischen Staat mit einem liberalen
Recht und einer sozialstaatlichen Perspektive stünde, also eine
Paasiviki-Kekkonen-Regierung. Aber solch eine Regierung kann man nicht
aus dem Nichts zaubern.

Wie auch immer: Solch eine Ukraine wäre auf Dauer sehr instabil, ein
Klotz am Bein Russlands. Der Krieg ist dann zwar _über_ die Ukraine,
aber nicht _in_ der Ukraine gewonnen.

Auch außenpolitisch ist der Ausgang des Kriegs, ob verloren oder
gewonnen, in jedem Fall eine Katastrophe für Russland. In Europa wären
alle Gedanken an eine Gemeinsame Europäische Sicherheit, wie sie der
Charta von Paris https://de.wikipedia.org/wiki/Charta_von_Paris und
aller ihr folgenden Abkommen einschließlich der Nato-Russland-Grundakte
https://de.wikipedia.org/wiki/NATO-Russland-Grundakte verloren, Russland
wird auf absehbare Zeit kein strategischer Partner im Westen mehr
sein. Da müsste wohl erst eine ganze Generation von Politikern abtreten
und durch neue ersetzt werden, ein Vorgang über Jahrzehnte.

Die Nato hat in den letzten Jahrzehnten massiv an Ansehen verloren. Die
Organisation und ihre Mitgliedsstaaten haben seit Jahrzehnten Kriege im
Nahen und Mittleren Osten und in Libyen geführt, die Millionen Menschen
das Leben gekostet haben, während Russland dort an Einfluss gewonnen
hat.

Der Westen hat jetzt die Chance zu einer weltpolitischen
Gegenoffensive. In der Uno hat das noch nicht so recht geklappt, zwar
wurde der Krieg Russlands mit überwältigender Mehrheit verurteilt,
aber an den Sanktionen gegen Russland wollte sich kaum ein
nicht-westlicher Staat beteiligen, der Westen blieb isoliert. Aber das
muss ja nicht so bleiben.


Noch aber sind überraschende Wendungen möglich. Es könnte sei, dass die
jetzigen Verhandlungen zwischen der Ukraine und Russland zu einem Ende
führen, bei dem die Ukraine auf seine Beziehungen zur Nato verzichtet,
im Gegenzug die mindestens formelle Oberhoheit über ihr Staatsgebiet von
2013 bekommt, in dem die Beziehungen zwischen den Bevölkerungsgruppen
neu ausgehandelt werden. Solch ein Ergebnis, in den Einzelheiten klug
gestaltet, könnte für beide Seiten das beste sein, auf die Dauer stabil.




Trägt der Westen eine Mitschuld an Russlands Krieg?
https://www.n-tv.de/politik/Traegt-der-Westen-eine-Mitschuld-an-Russlands-Krieg-article23208433.html

,----
| Roger Näbig: Ich sehe jedenfalls nicht, warum Russland sich von der NATO
| bedroht fühlen müsste. Die NATO hat sich 1997 in der
| NATO-Russland-Grundakte dazu verpflichtet, russische Sicherheitsbedenken
| ernst zu nehmen und keine substantiellen Einheiten dauerhaft in den
| neuen NATO-Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts zu stationieren. Es
| gab dort daher nur die rotierenden eFP-Einheiten, die Russland definitiv
| nicht bedroht haben. Und selbst wenn Russland sich von der NATO bedroht
| gefühlt hat: Das soll ein Grund sein, in die Ukraine einzufallen? Für
| mich ist das keine stimmige Argumentationskette. Zumal ein NATO-Beitritt
| der Ukraine überhaupt nicht anstand.
|
| Johannes Varwick: Das stimmt so nicht. Die NATO hat 2008 gesagt, dass
| die Ukraine Mitglied wird. Der Wortlaut war eindeutig. Seither ist der
| Zug in Richtung NATO-Mitgliedschaft immer schneller geworden. Die
| Ukraine hat an jedem NATO-Gipfel als Gast teilgenommen. Die NATO hat
| ungefähr 10.000 ukrainische Soldaten ausgebildet. Die USA und andere
| NATO-Staaten haben der Ukraine massive Militärhilfe geleistet. Im
| November 2021 wurde ein ukrainisch-amerikanischer Sicherheitspakt
| unterzeichnet, der das Ziel der NATO-Mitgliedschaft quasi zementiert
| hat. Die NATO-Mitgliedschaft stand zwar nicht an, aber sie stand
| gewissermaßen auf dem Gleis.
`----
Lesenswertes Doppelinterview



Kriegsberichte von heute
https://twitter.com/NikGerassimow/status/1505482878876061698



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https://friedenslage.blogspot.com/