Friedenslage heute
Kommentar zu einem vielfach verbreiteten Interview des
Redaktionsnetzwerkes Deutschland:
Es könnte die gegenwärtige und zukünftige Rezeption der gegenwärtigen
Ereignisse und die Schlussfolgerungen in der deutschen Öffentlichkeit
bestimmen. Immerhin wird Ischinger unbestritten als vertrauenswürdiger
Fachmann angesehen.
https://www.fr.de/politik/syrien-krieg-bundesregierung-verharrte-viel-lange-lethargie-13166801.html
,----
| Interview Syrien-Krieg: „Die Bundesregierung verharrte viel zu lange in
| Lethargie"
|
|
| Gordon Repinski berichtet für die Frankfurter Rundschau aus dem
| bundespolitischen Berlin.
|
|
| Syrien-Krieg: Sicherheitsexperte Wolfgang Ischinger spricht über
| Sicherheitspolitik, den Vorschlag einer Sicherheitszone in Nordsyrien
| und Reformen in der EU.
|
| Herr Ischinger, Deutschland debattiert über einen möglichen
| Bundeswehr-Einsatz in Nordsyrien. Hat die Initiative für eine
| Sicherheitszone eine Chance?
|
| Die Realität ist, dass die Türkei und Russland in der Region bereits
| eine Sicherheitszone nach eigenen Vorstellungen aufgebaut haben. Der
| Vorschlag von Annegret Kramp-Karrenbauer geht darüber hinaus. Aber die
| Aussichten sind leider nicht besonders gut, dass es in Nordsyrien eine
| Sicherheitszone nach den Vorstellungen der Verteidigungsministerin geben
| wird.
So ist es.
|
| Warum sind Sie so pessimistisch?
|
| Im Uno-Sicherheitsrat droht ein Veto Russlands, auch die Abstimmung mit
| Nato-Partner Türkei wird schwierig werden. Auch die EU steht nicht voll
| dahinter. Und Washington will sich auch nicht engagieren. Es fehlt aber
| vor allem ein klares Votum der gesamten Bundesregierung. Wenn sich
| Deutschland dafür einsetzt, dass Europa außenpolitisch mit einer Stimme
| spricht, dann sollte man zu Hause in Berlin damit
| anfangen. Kramp-Karrenbauer kann in Brüssel zurzeit nicht im Namen der
| Bundesregierung auftreten, sie verteidigt lediglich ihren eigenen
| Vorschlag. Das mindert ihre Schlagkraft.
Stimmt.
|
| Sehen Sie keine positiven Aspekte an dem Vorstoß?
|
| Doch. Es ist gut, dass sie den Vorschlag gemacht hat. Unabhängig davon,
| wie viel verwirklicht werden kann, öffnet sich dadurch die
| sicherheitspolitische Debatte in Deutschland. Die Bundesregierung
| verharrte viel zu lange in Lethargie. Die Initiative ist ein
| Fortschritt. Das verdient positive Würdigung. Ich hoffe, dass die Zeit
| der Tabuisierung von internationalen Friedenseinsätzen dadurch
| aufgebrochen ist.
Gemeint sind Militäreinsätze, Kriegseinsätze: Weil dieser Vorschlag in
vielen Bereichen der politischen Öffentlichkeit positiv aufgenommen
worden ist, und weil jene, die ihn ablehnen, als Schwächlinge
dargestellt werden können, könnte diese Vorschlag tatsächlich ein
Türöffner sein. Nicht im Falle Syriens, aber doch bei anderer
Gelegenheit. Man könnte beispielsweise Bundeswehr-Kampftruppen in die
Ukraine schicken wollen, um dort Schutz- und Sicherheitszonen zu
errichten.
|
| Ist es also eine mutige Initiative zur falschen Zeit?
|
| Die türkisch-russische Einigung ist womöglich keine nachhaltige
| Lösung. Der Islamische Staat existiert noch immer, die Gefahren in der
| Region sind real. Es kann sein, dass Russlands Präsident Putin sogar ein
| Interesse daran entwickelt, die Verantwortung für den Einsatz an die
| Vereinten Nationen zu übertragen. Dann käme ihm die Initiative von
| Annegret Kramp-Karrenbauer vielleicht durchaus gelegen.
Die Spekulation ist: Syrien könnte Russland zu teuer werden, weshalb
Russland seinen Einsatz mit Hilfe der UN verringern möchte. Das setzt
natürlich voraus, dass der Krieg noch so lange dauert, bis er Russland
zu sehr belastet, während der Westen das (vielleicht, erhofft)
finanzieren könnte.
|
| Wäre das ein wünschenswertes Szenario?
|
| Es würden immer Risiken bleiben. Wichtig ist, dass es eine
| Exit-Strategie gibt. Noch immer sind Bundeswehr-Soldaten am Balkan und
| in Afghanistan stationiert, nach rund zwei Jahrzehnten. Wenn jetzt ein
| neuer Einsatz beginnen soll, dann muss es eine klare Strategie für ein
| Ende geben, sonst gibt es keine ausreichende Unterstützung in der
| Bevölkerung.
Stimmt. Nur weiß niemand vor einem Einsatz, wie er enden wird, wenn
überhaupt. Krieg und militärische Einsätze haben nun mal die
Eigenschaft, schwer kalkulierbar zu sein, insbesondere hinsichtlich
ihrer politischen Folgen. Hier wird etwas verlangt, dass es nicht geben
kann. Damit könnte und sollte die Diskussion zu Ende sein.
|
| Sehen Sie das Risiko, den Job der Türkei mit Bundeswehr-Soldaten zu
| erledigen?
|
| Die Türkei ist und bleibt ein Nato-Partner und ein wichtiges Bindeglied
| für alle strategischen Fragen der Region. Wir müssen uns klar werden,
| was unser Interesse ist. Vor einigen Jahren sagten viele Politiker des
| Westens: Assad muss weg. Auch aus Deutschland kamen diese Stimmen, aber
| die Bundesregierung hat bis auf den Einsatz von Aufklärungsflugzeugen
| wenig dafür getan. In der nächsten Stufe haben wir festgestellt, dass
| wir in Europa mit der Flüchtlingskrise die Folgen direkt spüren. Deshalb
| gilt: Wenn wir uns nicht um derartige Krisen kümmern, dann müssen wir
| mit den Konsequenzen leben. Und dafür müssen wir mit der Türkei
| zusammenarbeiten. Aber wir müssen sie auch vor Fehlern und Übergriffen
| bewahren.
Die damalige Analyse war - trotz einer Menge an "Thinktanks", davon ein
großer Teil nur Propagandaabteilungen mit englischen Vokabeln in
besonders langen Sätzen - unzureichend. Man konnte damals außerhalb
dieser Thinktanks lesen, dass das Assad-Regime sich auf eine soziale und
politische Koalition der diversen religiösen und ethnischen Minderheiten
stützte, dazu auf die städtischen sunnitischen Schichten. Für diese
Minderheiten gab es keine akzeptable Alternative zu Assad, jedenfalls
nicht die andere Möglichkeit: einen sunnitischen Gottesstaat.
Folge: Während des gesamten Krieges scheint es nie eine überzeugende
politische Alternative zu Assad gegeben zu haben, keine Organisationen,
keine Personen. Der angestrebte RegimeChange hatte deshalb vermutlich
keine innersyrische Basis, jedenfalls ist keine aufgebaut, finanziert
und den arabischen und europäischen Öffentlichkeiten vorgestellt worden.
So blieb nur die Unterstützung sunnitischer Rebellen, finanziert ua von
den Wahabiten Saudi-Arabiens und ähnlich sympathischen Staaten. Damit
war klar, dass es keinen RegimeChange zu einer westlichen Demokratie in
Syrien geben konnte, sondern nur die völlige Zerstörung des Landes.
Hätten diese Gruppen gesiegt, wäre das Ergebnis aus westlicher Sicht
womöglich genauso unangenehm gewesen.
Verantwortungsbewusste deutsche Politik hätte schon 2012 den Verbündeten
gesagt, dass der RegimeChangeKrieg in Syrien beendet/eingestellt werden
muss. Stattdessen hat Deutschland mittels der gegen Syrien verhängten
EU-Wirtschaftsblockade zur Verlängerung dieses Krieges beigetragen.
Der EU-Nato-Griff nach Sewastopol verschärfte das Problem und weitete es
aus. Bei halbwegs realistischer Einschätzung hätte man im Westen ahnen
können, dass Russland sich weder Sewastopol - die militärische
Seeverbindung ins Mittelmeer - noch seinen Stützpunkt in Syrien wird
nehmen lassen. Mit dem Eingreifen Russlands wendete sich das Blatt: Die
vom Westen unterstützten "gemäßigten" Dschihadisten gerieten in die
Defensive, nach und nach wurden weitere Teile Syriens "befriedet".
So hat der Westen sich durch eine Reihe von Fehleinschätzungen selbst in
die politisch-strategische Niederlage hinein manövriert.
|
| Wäre es nicht wichtig gewesen, schon vor dem Vorstoß der Türkei in
| Nordsyrien aus Europa eine Initiative für eine Sicherheitszone zu
| starten?
|
| Absolut. Vor sieben Jahren wäre das leichter gewesen. Wir Europäer haben
| in Syrien einen schlimmen polit-strategischen Bankrott hingelegt – durch
| betretenes Wegschauen. Deswegen kommt der Vorschlag von
| Kramp-Karrenbauer natürlich spät. Aber es ist nie zu spät. Wir dürfen
| uns nicht mehr hinter den anderen verstecken. So erarbeitet man sich bei
| den Partnern Respekt.
Sicher ist es richtig, von einem politisch-strategische Bankrott der
Europäer zu sprechen. Allerdings nicht, weil man weggeschaut hatte,
sondern weil man zweifelhafte politisch-militärische Kräfte unterstützt
hat, die keine Aussicht auf Sieg hatten.
(Jetzt tauchen sie als Hilfstruppen bei der türkischen Invasion
Nordsyriens auf und werden nun selbst in jenen Medien, die sie bislang
als "gemäßigt" ansahen, als barbarische dschihadistische Söldner
eingeschätzt.)
Der Kern des europäischen politisch-strategischen Bankrotts: Mit
dschihadistischen Söldnern einen Krieg unterstützt zu haben, der von
vornherein keine Aussichten hatte, und auch dann noch an ihm
festgehalten zu haben, als er schon verloren war. Und zugleich eine
moralische Katastrophe: Die Toten, die Flüchtlinge und die Zerstörung
des Landes dürfen der Westen samt EU sich durchaus auch zurechnen
lassen.
Verantwortungsvolle deutsche Politik hätte sehr früh den Rückzug
angetreten und die Verbündeten gedrängt, Wege zu suchen, den Krieg so
schnell wie möglich zu beenden. Eine Beteiligung am Wiederaufbau hätte
damals vielleicht westlichen Einfluss in und um Syrien erhalten, der
russische Einfluss wäre geringer gebliebenen.
Die Flüchtlingskrise von 2015 gehört auch in die Reihe der Folgen dieser
Fehleinschätzungen. Sie hat die EU auf das Schwerste belastet und
belastet sie weiterhin, sie hat das politische System Deutschlands
negativ verändert (Stichwörter: AfD, eingeschränkte
Koalitionsmöglichkeiten.)
Eine katastrophale Abfolge von Fehleinschätzungen und ihren Resultaten.
|
| Wie kann es jetzt weitergehen?
|
| Es macht Sinn, sich mit den europäischen Partnern, aber auch mit der
| Türkei und mit Russland zusammenzusetzen. Wenn eine Sicherheitszone
| funktionieren soll, dann braucht es ein Uno-Mandat und eine möglichst
| breit multinational aufgestellte Friedenstruppe.
|
| Müssen wir uns mit Assad als Partner arrangieren – um eine Einladung zu
| dem Einsatz zu erhalten?
|
| Das ist die bitterste Pille in diesem Zusammenhang. Nachdem die
| Bundesregierung und andere Assad loswerden wollten, sitzt er jetzt
| fester im Sattel als zuvor.
Und die Frage wird sein, ob der Westen Syrien - möglicherweise mit Assad
- beim Wiederaufbau zu günstigen Konditionen hilft oder ob China
und/oder Russland das machen.
| Wir erleben einen historischen
| Epochenbruch. Nach dem Kalten Krieg haben wir auf eine dauerhafte
| Friedensordnung gehofft. Diese Hoffnung hat sich zerschlagen.
Das ist nun nicht eben konsistent: Die erhoffte Friedensordnung hat
nicht Assad zerschlagen. Den Krieg haben andere begonnen.
|
| Jetzt steht alles infrage?
|
| Die deutsche Außenpolitik muss sich auf vollkommen neue Parameter in
| einer gefährlicheren Welt einstellen. Internationale Abkommen werden
| gekündigt, Partner sind nicht mehr verlässlich. Wir leben in einer
| Hochrisikowelt. Deswegen ist auch die Debatte um die zwei Prozent
| Militärausgaben nur der Anfang der Debatte.
Nicht ganz falsch, aber Deutschland hatte eben mit dem Papier "Neue
Macht / Neue Verantwortung" und dem "Münchener Konsens" beschlossen,
Risiko für andere zu werden. Und nun sehen wir das Ergebnis. - In der
2%-Sache dagegen geht es darum, ob Deutschland sich den Ungereimheiten
us-amerikanischer Außenpolitik zur Verfügung stellt; dass eine
entsprechende Politik die Sicherheit Deutschlands erhöht, ist nicht zu
erkennen.
|
| Was meinen Sie?
|
| Wir Europäer müssen uns selbst verteidigen können. Es geht dabei nicht
| um einen Dritten Weltkrieg. Es geht aber darum, dass in dieser neuen
| Welt Gefahren lauern, auf die man reagieren können muss, notfalls auch
| mit militärischen Mitteln.
|
| Ist das vielstimmige Europa der 28 oder 27 Länder denn wirklich fähig,
| jemals mit einer Stimme in der Außenpolitik zu sprechen? Da bin ich
| Berufsoptimist. Es stimmt, dass die EU lange mit ihren eigenen Krisen
| beschäftigt ist. Aber die EU muss sich in diese Richtung entwickeln. Sie
| hat alles an Potenzial, das wir uns wünschen könnten.
Es ist nicht nachvollziehbar, wie aus der selbstgemachten Krise in und
um Syrien die Forderung erwachsen sollte, die EU müsse militärisch
"reagieren" können. Niemand hat sie in diese Krise hinein-bedroht, sie
hat vielmehr selbst Krisen mit entfacht.
|
| Was muss konkret geschehen?
|
| Der wichtigste Schritt ist die Einführung von Mehrheitsentscheidungen in
| der Außenpolitik. Es kann nicht sein, dass bei jeder Entscheidung jeder
| ein Veto einlegen kann. Aber auch Deutschland muss sich bewegen. Der
| Parlamentsvorbehalt bremst unsere Partnerschaftsfähigkeit, er sollte im
| Sinne der Vorschläge von Volker Rühe angepasst werden.
Mehrheitsentscheidungen in der Außenpolitik der EU meint: Keine
Rücksicht mehr nehmen auf kleinere Staaten, auf unbotmäßige
Regierungen. In einer Zeit, in der die EU als Folge der riskanten
westlichen Außenpolitik in mehrere Blöcke auseinander zu fallen droht,
die verschiedenen Staaten nicht mehr integrieren zu wollen, heißt,
einzelne Mitgliedsländer Risiken auszusetzen, die sich gerade nicht
tragen wollen. Gibt es ein besseres Mittel, die EU noch weiter zu
schwächen? - Parlamentsvorbehalt: Angesichts solch unprofessioneller
Politiker*innen wie AKK eine zwingende Notwendigkeit.
Es handelt sich also um einen Versuch, mit einer selbstverschuldeten
Krise die Regeln so zu ändern, dass die Krise wiederholt werden kann, in
der unbegründeten Hoffnung, sie das nächste Mal erfolgreich zu
bestehen.
`----
Insgesamt: Falsche Analyse, verheerende Folgen, unverantwortliche
Forderungen und Ratschläge.
,----
| Zur Person Wolfgang Ischinger ist seit 2008 Vorsitzender der Münchner
| Sicherheitskonferenz. Er war Staatssekretär im Auswärtigen Amt und
| deutscher Botschafter in Washington und London.
|
| Er ist außerdem Senior Professor for Security Policy and Diplomatic
| Practice an der Hertie School of Governance in Berlin sowie
| Honorarprofessor an der Universität Tübingen und berät Regierungen,
| internationale Organisationen und Unternehmen bei
| politisch-strategischen Fragestellungen.
`----
Also ein Mann, der voll und ganz mitten im deutschen
IB-Beratungsgeschäft steht, ohne dass die Profession sich für diesen
Dilettantismus geniert. Sagt wohl eine Menge über die Qualität dieses
Gewerbes.
--
https://friedenslage.blogspot.com/