Ein Text über die sozusagen ideologischen Hintergründe der Politik
Putins. Der Autor gilt als bedeutender Politikwissenschaftler. Ob und
inwieweit der Kreml von solchen Überlegungen beeinflusst ist, kann
unsereins schwer sagen. Dass der Text in einer wichtigen, wie man sagt,
russischen politikwissenschaftlichen Zeitschrift erschienen ist, mag ein
Hinweis auf seine Bedeutung sein. Das Portal „RT-DE", vom russischen
Staat finanziert, gehört sicher nicht zu den Quellen der ersten Wahl,
aber vielleicht ist es sozusagen Regierungsabsicht, dass genau dieser
Text veröffentlicht worden ist.
Er ist lang, ich versuche, ihn zur Lesbarkeit zu kürzen und vielleicht
etwas einzuordnen.
https://de.rt.com/meinung/132433-sergei-karaganow-russlands-neue-aussenpolitik
,----
| Sergei Karaganow: Russlands neue Außenpolitik, die Putin-Doktrin
| 26 Feb. 2022 11:23 Uhr
| Moskaus Konfrontation mit der NATO ist erst der Anfang. Es scheint, als
| sei Russland in eine neue Ära seiner Außenpolitik eingetreten – eine
| "konstruktive Zerstörung", kommentiert Professor Sergei Karaganow,
| Ehrenvorsitzender des russischen Rates für Außen- und
| Verteidigungspolitik.
|
| von Sergei Karaganow
| Russlands neues Denken
|
| Es scheint, als sei Russland in eine neue Ära seiner Außenpolitik
| eingetreten – eine "konstruktive Zerstörung", wie wir es nennen, des
| bisherigen Modells der Beziehungen zum Westen. Teile dieser neuen
| Denkweise haben sich in den letzten 15 Jahren abgezeichnet – angefangen
| mit Wladimir Putins berühmter Münchner Rede im Jahr 2007 –, aber vieles
| wird erst jetzt deutlich.
| Die Außenwelt bietet
| Russland ohnehin mehr und mehr geopolitische Möglichkeiten für eine
| mittelfristige Entwicklung. Mit einer großen Ausnahme. Die Erweiterung
| der NATO und die formelle oder informelle Einbeziehung der Ukraine
| stellen ein Risiko für die Sicherheit des Landes dar, das Moskau einfach
| nicht akzeptieren will.
| Derzeit befindet sich der Westen auf einem
| langsamen, aber unausweichlichen Zerfallskurs, sowohl innen- als auch
| außenpolitisch und sogar wirtschaftlich.
Dass der Kapitalismus sich in der soundsovielten Etappe von Krise und
Verfall befindet, konnte man auch zu Breschnews Zeiten lesen. Irgendwie
scheint das reichlich lange zu dauern. Auf solche Aussagen Politik
aufbauen? Sieht nicht vernünftig aus.
| Der Westen versucht derzeit verzweifelt, sich mit aggressiver Rhetorik
| dagegen zu wehren. Er versucht, sich zu konsolidieren und seine letzten
| Trümpfe auszuspielen, um diesen Trend umzukehren. Einer dieser Trümpfe
| ist der Versuch, die Ukraine zu nutzen, um Russland zu schaden und zu
| schwächen.
All das, was seit Jahrzehnten mit der Ukraine zu tun hat, soll Russland
schaden, zweifellos.
| Ein weiterer Trumpf ist die dominierende Rolle des Westens im
| bestehenden euro-atlantischen Sicherheitssystem, das zu einer Zeit
| geschaffen wurde, als Russland nach dem Kalten Krieg stark geschwächt
| war. Es ist sinnvoll, dieses System allmählich zu beseitigen, vor allem
| indem man sich weigert, an ihm teilzunehmen und nach seinen veralteten
| Regeln zu spielen, die für uns von Natur aus nachteilig sind. Für
| Russland sollte die westliche Schiene gegenüber seiner eurasischen
| Diplomatie zweitrangig werden. Die Aufrechterhaltung konstruktiver
| Beziehungen zu den Ländern im westlichen Teil des Kontinents kann
| Russland die Integration in den eurasischen Großraum erleichtern. Das
| alte System steht jedoch im Weg und sollte daher abgebaut werden.
An dieser Stelle kommt man zum Zentrum des Textes: Es geht Russland
nicht mehr um ein „Gemeinsames Haus Europa" (Gorbatschow). Es ist nicht
erreicht worden und steht auch nicht (mehr) auf der Tagesordnung. -
Soweit verständlich, gemeint ist jedoch, dass es auch nicht mehr zur
Zielvorstellung der russischen Außenpolitik gehört. Das jetzigen
Stichwort heißt vielmehr „eurasischer Großraum". Wenn einige
westeuropäische Staaten mitkommen wollen, kann das von Vorteil sein, von
entscheidender Bedeutung ist es nicht.
Was etwa für die EU bedeutet: Schön, wenn sie sich friedlich zu Russland
verhalten sollte, erforderlich ist das nicht. Russland kann sie auch
ignorieren.
| Der entscheidende nächste Schritt zur Schaffung eines neuen Systems
| (abgesehen von der Abschaffung des alten Systems) ist die "Vereinigung
| der Länder". Das ist eine Notwendigkeit für Moskau, keine Laune.
Gemeint ist: Vereinigung von Ländern der ehemaligen Sowjetunion,
vielleicht des Zarenreiches.
| Im Moment
| kann ich nur auf das Offensichtliche hinweisen: Die meisten lokalen
| Eliten haben keine historische oder kulturelle Erfahrung mit dem Aufbau
| von Staaten. Sie waren nie in der Lage, zum Kern der Nation zu werden –
| sie hatten nicht genug Zeit dafür. Als der gemeinsame intellektuelle und
| kulturelle Raum verschwand, traf dies die kleinen Länder am
| härtesten. Die neuen Möglichkeiten, Beziehungen zum Westen aufzubauen,
| erwiesen sich als kein Ersatz. Diejenigen, die sich an der Spitze
| solcher Länder wiederfanden, haben ihr Land zu ihrem eigenen Vorteil
| verkauft, weil es keine nationale Idee gab, für die es zu kämpfen
| galt.Die meisten dieser Länder werden entweder dem Beispiel der
| baltischen Staaten folgen und sich von außen steuern lassen, oder sie
| werden weiter außer Kontrolle geraten, was in einigen Fällen äußerst
| gefährlich sein kann.
Gemeint is: Die politischen Führungen der vielen kleinen Staaten zeigen
sich eh unfähig, ihren Völkern und Staaten eine aussichtsreiche und
stabile Zukunft zu entwerfen. Ohne Integration in ein
staatsübergreifendes politisches und wirtschaftliches System unter dem
wesentlichen Einfluss Russlands wird es dort keine politische Stabilität
geben. Der Westen wird jedenfalls keine dauerhafte Ordnung herstellen
können, ohne zugleich Konfrontationen zu schaffen. (Als Beispiel könnte
man den armenisch-aserbeidschanischen Krieg nehmen.)
| Die
| Münchner Rede, der Georgienkrieg und die Armeereform, die inmitten einer
| weltweiten Wirtschaftskrise stattfanden, die das Ende des westlichen
| liberalen, globalistischen Imperialismus (ein Begriff, der von einem
| prominenten Experten für internationale Angelegenheiten, Richard Sakwa,
| geprägt wurde) bedeutete, markierten das neue Ziel der russischen
| Außenpolitik – wieder eine führende Weltmacht zu werden, die ihre
| Souveränität und Interessen verteidigen kann. Es folgten die Ereignisse
| auf der Krim, in Syrien, die militärische Aufrüstung und die
| Verhinderung der Einmischung des Westens in die inneren Angelegenheiten
| Russlands ...
| De-facto-Bündnispartnerschaft mit Peking ab den 2010er Jahren, der
| Schwenk nach Osten und die multidimensionale Krise, die den Westen
| erfasst hat, haben zu einer großen Verschiebung des politischen und
| geoökonomischen Gleichgewichts zu Gunsten Russlands geführt. Dies ist
| in Europa besonders ausgeprägt. Noch vor einem Jahrzehnt betrachtete die
| EU Russland als einen rückständigen und schwachen Rand des Kontinents,
| der sich mit den Großmächten messen wollte. ...
|
| Russland hat aufgeholt und dafür gesorgt, dass es im nächsten Jahrzehnt
| strategisch relativ unverwundbar und in der Lage sein wird, im Falle
| von Konflikten in den Regionen seiner Interessensphäre "in einem
| Eskalationsszenario zu dominieren".
|
| Das Ultimatum, das Russland den USA und der NATO Ende 2021 stellte und
| in dem es sie aufforderte, den Ausbau der militärischen Infrastruktur in
| der Nähe der russischen Grenzen und die Expansion nach Osten
| einzustellen, markierte den Beginn der "konstruktiven Zerstörung". Das
| Ziel besteht nicht nur darin, die erlahmende, wenn auch wirklich
| gefährliche Trägheit des geostrategischen Vorstoßes des Westens zu
| stoppen, sondern auch damit zu beginnen, den Grundstein für eine neue
| Art von Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zu legen, die sich
| von dem unterscheiden, was wir in den 1990er Jahren festgelegt
| haben. ...
Eine Neuordnung Europas. Von dort her ist es wohl verstehen, dass die
russischen Texte der letzten Monate nur selten auf die Charta von Paris
oder die Nato-Russland-Grundakte von 1997 Bezug nehmen.
| Die schön formulierte Charta von Paris für ein neues Europa, die
| 1990 unterzeichnet wurde, enthielt eine Erklärung über die
| Assoziationsfreiheit – die Länder konnten sich ihre Verbündeten
| aussuchen, was nach der Erklärung von Helsinki von 1975 unmöglich
Unverständlich.
| gewesen wäre. Da der Warschauer Pakt zu diesem Zeitpunkt auf dem
| Zahnfleisch ging, bedeutete diese Klausel, dass die NATO die Möglichkeit
| hatte, sich zu erweitern. Auf dieses Dokument berufen sich alle, auch in
| Russland. Damals, 1990, konnte die NATO jedoch zumindest als
| "Verteidigungs"-Organisation bezeichnet werden. Das Bündnis und die
| meisten seiner Mitglieder haben seitdem eine Reihe aggressiver
| Militäraktionen durchgeführt – gegen die Überreste Jugoslawiens, aber
| auch im Irak und in Libyen.
|
| Nach einem herzlichen Gespräch mit Lech Wałęsa im Jahr 1993
| unterzeichnete Boris Jelzin ein Dokument, in dem es hieß, Russland
| habe
Darf man wohl lesen als: Der Wodka war hilfreich ...
| "Verständnis für Polens Plan, der NATO beizutreten". Als Andrei Kosirew,
| der damalige russische Außenminister, 1994 von den Erweiterungsplänen
| der NATO erfuhr, begann er im Namen Russlands zu verhandeln, ohne den
| Präsidenten zu konsultieren. Die andere Seite wertete dies als Zeichen
| dafür, dass Russland mit dem allgemeinen Konzept einverstanden war, da
| es versuchte, akzeptable Bedingungen auszuhandeln. 1995 trat Moskau auf
| die Bremse, aber es war zu spät – der Damm brach und fegte alle
| Vorbehalte gegen die westlichen Expansionsbestrebungen hinweg.
|
| 1997 unterzeichnete das wirtschaftlich schwache und vom Westen völlig
| abhängige Russland die Grundakte über gegenseitige Beziehungen,
| Zusammenarbeit und Sicherheit mit der NATO. Moskau gelang es, dem Westen
| bestimmte Zugeständnisse abzuringen, wie etwa die Zusage, keine großen
| militärischen Einheiten in die neuen Mitgliedstaaten zu entsenden. Gegen
| diese Verpflichtung hat die NATO konsequent verstoßen. Eine weitere
| Vereinbarung bestand darin, diese Gebiete frei von Atomwaffen zu
| halten. Die USA hätten dies ohnehin nicht gewollt, da sie versucht
| hatten, sich von einem möglichen Atomkonflikt in Europa so weit wie
| möglich zu distanzieren (trotz der Wünsche ihrer Verbündeten), da dies
| zweifellos einen Atomschlag gegen Amerika zur Folge hätte. In
| Wirklichkeit legitimierte das Dokument die Expansion der NATO. ...
| Es ist sehr bedauerlich, dass wir uns nie getraut haben, es
| offen auszusprechen – die NATO war zu einem Aggressor geworden, der
| zahlreiche Kriegsverbrechen begangen hat. Dies wäre eine ernüchternde
| Wahrheit für verschiedene politische Kreise in Europa gewesen, wie zum
| Beispiel in Finnland und Schweden, wo einige über die Vorteile eines
| Beitritts zur Organisation nachdenken....
| Aber was haben wir von diesem System? Vor allem jetzt, da es
| offensichtlich geworden ist, dass es Konfrontationen an unseren
| westlichen Grenzen und in der ganzen Welt hervorruft und
| eskaliert. ...
| Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE)
| ist überholt. Sie wird von der NATO und der EU dominiert, die die
| Organisation nutzen, um die Konfrontation in die Länge zu ziehen und die
| politischen Werte und Normen des Westens allen anderen
| aufzuzwingen. ...
| Einst galt die OSZE als
| nützliche Organisation, die das UN-System und die UN-Prinzipien auf
| einem wichtigen Subkontinent fördern sollte. Dazu ist es nicht
| gekommen.
| Was die NATO betrifft, so ist es ganz klar, was wir tun
| sollten. Wir müssen die moralische und politische Legitimität des Blocks
| untergraben und jede institutionelle Partnerschaft ablehnen, da ihre
| Kontraproduktivität offensichtlich ist. Nur das Militär sollte weiterhin
| kommunizieren, aber als Hilfskanal, der den Dialog mit dem
| Verteidigungsministerium und den Verteidigungsministerien der führenden
| europäischen Staaten ergänzt. ...
|
| Politik für das Russland von morgen
|
| ... Eine Eskalation der
| Konfrontation ist nicht zu befürchten: Wir haben gesehen, wie die
| Spannungen selbst dann zunahmen, als Russland versuchte, die westliche
| Welt zu beschwichtigen. Wir sollten uns auf eine stärkere Gegenwehr des
| Westens vorbereiten; außerdem sollte Russland in der Lage sein, der Welt
| eine langfristige Alternative anzubieten – einen neuen politischen
| Rahmen, der auf Frieden und Zusammenarbeit beruht.
In Zeiten nicht nur von Kriegen, die auch „konventionell" katastrophal
sein können, sondern auch von möglichen Atomkriegen, dürfte das eine
leichtsinnige Konzeption sein.
| Natürlich ist es
| sinnvoll, unsere Partner von Zeit zu Zeit daran zu erinnern, dass es zu
| all dem eine für beide Seiten vorteilhafte Alternative gibt. Wenn
| Russland eine vernünftige, aber durchsetzungsfähige Politik betreibt
| (auch im eigenen Land), wird es die jüngste Welle der westlichen
| Feindseligkeit erfolgreich (und relativ friedlich) überwinden. ...
| Wir dürfen nicht zulassen, dass die Ukraine zu einer
| Sicherheitsbedrohung für Russland wird. Allerdings wäre es
| kontraproduktiv, zu viele administrative und politische (ganz zu
| schweigen von wirtschaftlichen) Ressourcen darauf zu verwenden. Russland
| muss lernen, diese instabile Situation aktiv zu steuern und in Grenzen
| zu halten.
Das ist momentan wohl gerade nicht gelungen: Der Krieg könnte Russland
sehr hart fordern.
| ... Es ist höchste Zeit,
| dass wir aufhören, Zbigniew Brzezińskis unaufrichtige – und so
| auffallend polnische – Behauptung zu wiederholen, Russland könne ohne
| die Ukraine keine Großmacht sein. Das Gegenteil ist viel näher an der
| Wahrheit: Russland kann keine Großmacht sein, wenn es durch eine
| zunehmend schwerfällige Ukraine belastet wird – ein politisches Gebilde,
| das von Lenin geschaffen wurde und später unter Stalin nach Westen
| expandierte.
Genau so ist Russlands Politik momentan nicht. Oder ist diese Politik in
diesen Tagen aus dem Ruder gelaufen?
| Der vielversprechendste Weg für Russland liegt in der
| Entwicklung und Stärkung der Beziehungen zu China. Eine Partnerschaft
| mit Peking würde das Potenzial beider Länder um ein Vielfaches
| steigern. ...
Ob China ein Partner ist, der Russland ganz selbstlos zur Seite stehen
wird?
| Wenn es an der Zeit ist, ein
| neues europäisches Sicherheitssystem zu schaffen, das das gefährlich
| überholte bestehende System ersetzt, muss dies im Rahmen eines größeren
| eurasischen Projekts geschehen. Aus dem alten euro-atlantischen System
| kann nichts Sinnvolles hervorgehen.
Das bleibt sehr vage ...
| Es versteht sich von selbst, dass der
| Erfolg die Entwicklung und Modernisierung des wirtschaftlichen,
| technologischen und wissenschaftlichen Potenzials des Landes voraussetzt
| – alles Säulen der militärischen Macht eines Landes, die das Rückgrat
| der Souveränität und Sicherheit jeder Nation bleibt. Russland kann
| nicht erfolgreich sein, ohne die Lebensqualität für die Mehrheit seiner
| Bevölkerung zu verbessern: Dazu gehören der allgemeine Wohlstand, das
| Gesundheitswesen, die Bildung und die Umwelt. Die Einschränkung der
| politischen Freiheiten, die in der Konfrontation mit dem kollektiven
| Westen unvermeidlich ist, darf sich auf keinen Fall auf den geistigen
| Bereich erstrecken. Das ist schwierig, aber machbar.
Einerseits eingeschränkte Demokratie, andererseits geistige Freiheit für
Kultur, Wissenschaft und so weiter? Solch ein politisches System ist
schwer vorstellbar.
| ... Wir müssen damit beginnen, auf
| geistige Unabhängigkeit hinzuarbeiten, nachdem wir militärische
| Sicherheit und politische und wirtschaftliche Souveränität erreicht
| haben. In der neuen Welt ist es obligatorisch, sich zu entwickeln und
| Einfluss zu nehmen. Michail Remisow, ein prominenter russischer
| Politikwissenschaftler, war meines Wissens der erste, der dies als
| "intellektuelle Dekolonisierung" bezeichnete. Nachdem wir jahrzehntelang
| im Schatten des importierten Marxismus gestanden haben, haben wir in
| Wirtschaft und Politikwissenschaft und bis zu einem gewissen Grad auch
| in der Außen- und Verteidigungspolitik den Übergang zu einer anderen
| fremden Ideologie der liberalen Demokratie eingeleitet . ...
(Den Rest weggelassen ...)
|
| Sergei Karaganow ist Ehrenvorsitzender des russischen Rates für Außen-
| und Verteidigungspolitik und wissenschaftlicher Betreuer an der
| Hochschule für Internationale Wirtschaft und Außenpolitik (HSE) in
| Moskau. Dieser Artikel ist zuerst online in der Zeitschrift Russia in
| Global Affairs erschienen.
`----
Liest sich besonderer, als es zu sein scheint. Im der Moderne hinterher
laufenden Russland des 19. Jahrhunderts soll es zwei Denkschulen gegeben
haben: die einen sagt, man müsse, um zu Europa aufzuholen, von Europa
lernen, sie sollen „die Westler" geschimpft worden sein. Und dann soll
es andere gegeben haben, die tief ins eigene Slawentum graben wollten,
um dort einen besonderen russischen Weg zu finden.
Putin hat man um 2000 zu den „Westlern" gerechnet, er sollte den
Anschluss besorgen. Das hat nicht geklappt. Nun ist turnusgemäß die
andere Richtung an der Reihe.
Karaganow will die politischen Verbindungen zum Westen so weit wie
möglich reduzieren. McFaul, einstmals Berater Obamas in Sachen Russland
und Botschafter in Moskau, will das auch
https://friedenslage.blogspot.com/2021/01/friedenslage-21012021-2047.html. Insofern
ähnlich. „Was immer wir machen, sie randalieren doch!" Da können wir
gleich tun, was wir uns einfällt und was wir wollen. Was immer es an
politischen Einrichtungen in Europa gibt, die für Russland von Bedeutung
sein könnten, an denen man beteiligt ist oder auch nicht, ist so weit
wie möglich in seiner Bedeutung zu reduzieren. Ob es die OSZE ist, die
Charta von Paris, die EU oder die Nato: Nichts davon darf dadurch, dass
Russland mitmacht, gestärkt werden. Es ist sowieso alles gleichgültig,
was in den anderen Ländern passiert, Ausnahme Ukraine. Aber auch dieses
vom Westen paralysierte Land ist letztlich egal. (Sieht Putin anders,
mit gravierenden Folgen.)
Stattdessen ist ein eurasisches Sicherheitssystem aufzubauen: Zum einen
müssen die Länder des alten Zarenreiches und der Sowjetunion wieder
eingesammelt werden, denn deren lokale und nationale Eliten haben
keinerlei Erfahrung darin einen Staat anständig zu leiten. Danach oder
gleichzeitig muss ein Bündnis mit China aufgebaut werden, darüber, wie
das aussieht, erfährt man in dem Text allerdings wenig.
Zur Demokratie nur ein paar kryptische Aussagen, sie sei ein Import aus
fremden Ländern und Geisteswelten, anderseits brauche man
Geistesfreiheit. Mit solchen Gedanken lässt sich vielleicht ein
politisches System basteln wie das deutsche Kaiserreich im
19.Jahrhundert: Etwas politische Beteiligung durch ein letztlich nicht
entscheidendes Parlament, eine straffe leistungsfähige Verwaltung und
der Aufbau eines effizienten Schul- und Hochschulsystems, dazu jede
Menge wirtschaftlicher Freiheit und auch Meinungsfreiheit, soweit sie
gewisse Grenzen respektiert. Das war, heute wird über die Wilhelms ja
meist schlecht gesprochen, weil man sie vom Ende her sieht, durchaus
eines der leistungsfähigeren politischen Systeme. Aber, muss man ja auch
sagen, im Wettbewerb mit den angelsächsischen Systemen dann doch
unterlegen.
Man sieht, der Text geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Aber es wäre zu
einfach, daraus nur einen bösen Vorwurf zu machen. Denn solche
Rückgriffe gibt es auch in anderen Ländern.
Legt man die Landkarten der aktuellen polnischen „Drei-Meeres-Initiative"
https://de.wikipedia.org/wiki/Drei-Meere-Initiative, des polnischen
„Zwischenmeer"-Konzepts https://de.wikipedia.org/wiki/Mi%C4%99dzymorze
des Marschalls Józef Piłsudski aus den 1920er Jahren und des
polnisch-litauischen Jagiellonen-Reichs
https://en.wikipedia.org/wiki/Polish_Golden_Age übereinander, gibt es
durchaus Ähnlichkeiten.
Es scheint also so, dass die Vorstellung der Jahre 199x, dass die
Länder im Osten sich langsam, aber sicher an die westeuropäischen
Moderne auch in ihrem Geistesleben, in ihrer Nationalideologie
anschließen würden, von vornherein falsch war. Der Zusammenbruch des
Realsozialismus führte vielmehr zu einer Rückkehr noch älterer
nationaler Konzepte.
Erstaunlicher ist vielmehr unsere Wahrnehmung: Wenn es um Russland geht,
wird solch eine Orientierung sofort wahrgenommen und in alles hinein
interpretiert, was in Russland geschieht. Bei Ungarn und Polen wird es
in ihrer Innenpolitik durchaus wahrgenommen, der nationalistische
Charakter der polnischen Außenpolitik wird schlicht ignoriert. Ich habe
auf twitter einige Polen, mit denen ich zufällig Kontakt hatte, nach den
Gründen für ihre Russland-Feindschaft gefragt. Sie konnten keinen
einzigen konkreten Konflikt nennen, selbst ihre Erfahrung mit dem
Stalinismus wurde nicht benannt. Über ein „das war schon immer so" ging
es nicht hinaus, vielleicht noch Hinweise auf die Unterdrückung durch
die Zaren, während die preußische Herrschaft in Westpolen kein Thema
war.
Die Geschichte wird also sehr selektiv erinnert, unter Zuhilfenahme von
Denkmustern vergangener Zeiten, andere scheinen nicht zu Verfügung zu
stehen.
Zum russischen Text zurück: Es ist, man kann es wohl so sagen, die
Ideologie eines Schwellenlandes. Vom Entwicklungsland unterscheidet es
sich durch Sektoren moderner Industrie, zigfacher Spitzenleistungen, von
einem modernen westlichen Land durch das Fehlen einer in den
Jahrhunderten gewachsenen bürgerlicher Kultur, die ihre eigenen
gesellschaftlichen Verkehrsformen und Institutionen hervor gebracht
hat. Insofern wird dieses System noch nicht einmal die
zivilgesellschaftliche Moderne des zweiten deutschen Kaiserreichs
hervorbringen. Ein Weg in die Irre.
Hier noch einmal die Quelle
https://de.rt.com/meinung/132433-sergei-karaganow-russlands-neue-aussenpolitik/
Ein andere Kommentierung dieses Textes, auch zur schnellen Orientierung
geeignet.
https://www.heise.de/tp/features/Eine-Strategie-fuer-Putin-Weltmachtstatus-durch-konstruktive-Zerstoerung-6527756.html?seite=all
--
https://friedenslage.blogspot.com/