Veränderungen und Einwände
Unsere Forderungen, den Frieden am Muster des KSZE-Prozesses zu gestalten
Stimmen die Voraussetzungen für unsere Forderungen noch, den Krieg in der Ukraine zu beenden? Hat der Krieg diese Welt nicht verändert, geradezu zerstört?
Friedensbewegt ist man in der Überlieferung der KSZE und der Charta von Paris: Staaten garantieren / organisieren sich ihre Sicherheit auf Gegenseitigkeit. Alle Staaten sind beteiligt, achten gegenseitig die Souveränität und territoriale Integrität. Sie entwickeln ein Institutionensystem der Zusammenarbeit, gegenseitigen Sicherheit, Konsultation und Konfliktbeilegung, das sie immer weiter vertiefen. Vor allem stehen sie nicht in Bündnissen gegeneinander.
Im Inneren sind diese Staaten demokratisch, wie auch immer man das organisiert, die Grundrechte sind die Basis der politischen Beteiligung, die Freiheitsrechte werden geachtet. Minderheiten, seien sie ethnisch, sprachlich, religiös oder sonstwie von der Mehrheit unterschieden, haben nicht nur alle Freiheiten, sie werden vom Staat auch gefördert, zB im Bereich von Schule und Bildung.
Der Friede der Charta von Paris ist in Europa ist nach mehr als 30 Jahre aus der öffentlichen Diskussion so gut wie verschwunden. Die Ursache dafür kann man darin suchen, dass eine der großen Mächte, Russland, mit minderen Rechten abgefunden werden sollte: Alle anderen Staaten sollten das Recht haben, sich vorsorglich schon mal gegen es zu verbünden. Das Übereinander von Gegenseitiger Sicherheit aller und Vereinter Sicherheit gegen einen musste, wie vorher gesagt, scheitern.
Aber dennoch, friedensbewegt weiß man, mit Kant, keine Alternative: Der neue Frieden nach dem Krieg des 24.02.2022 kann, wenn er dauerhaft sein soll, auf keinen anderen Prinzipien beruhen. Wenn nicht, ist er nur die Etappe zum nächsten Krieg.
Jedoch: Finden sich denn bei den Vertragspartnern eines zukünftigen Friedens die notwendigen politisch-ideologischen Voraussetzungen?
Der Westen hat seine Position zur Charta nicht geändert, jedenfalls nicht offiziell, aber es herrscht weiterhin eine selektive Interpretation der Charta vor: Jeder könne, ohne Rücksicht auf alle anderen, Bündnispolitik machen, wie er will, Einwände seien unerlaubt.
Anders dagegen Russland. In den Begründungen seiner Vertragsentwürfe vom Dezember 2021 bezog es sich auf die KSZE, auf die Charta von Paris1, das Istanbul Dokument2 und sogar auf die Nato-Russland-Grundakte von 1997. Das alles findet man in aktuellen russischen Texten3 nicht mehr.
Da ist zunächst der Text von Sergei Karaganow: „Russlands neue Außenpolitik, die Putin-Doktrin“4 vom 26.02.2021 (Man beachte das Datum, der Text ist wohl vor dem 24.02.2022, dem Kriegsbeginn, geschrieben). Seine These ist, dass Russland sich von allen nach 1991 eingegangenen Bindungen befreit, um eine neue selbständige Außenpolitik zu entwickeln, die auf ein nach Osten ausgerichtetes Bündnis zielt. Einige Auszüge:
Ein weiterer Trumpf ist die dominierende Rolle des Westens im bestehenden euro-atlantischen Sicherheitssystem, das zu einer Zeit geschaffen wurde, als Russland nach dem Kalten Krieg stark geschwächt war. Es ist sinnvoll, dieses System allmählich zu beseitigen, vor allem indem man sich weigert, an ihm teilzunehmen und nach seinen veralteten Regeln zu spielen, die für uns von Natur aus nachteilig sind. Für Russland sollte die westliche Schiene gegenüber seiner eurasischen Diplomatie zweitrangig werden. Die Aufrechterhaltung konstruktiver Beziehungen zu den Ländern im westlichen Teil des Kontinents kann Russland die Integration in den eurasischen Großraum erleichtern. Das alte System steht jedoch im Weg und sollte daher abgebaut werden. …
Das Ultimatum, das Russland den USA und der NATO Ende 2021 stellte und in dem es sie aufforderte, den Ausbau der militärischen Infrastruktur in der Nähe der russischen Grenzen und die Expansion nach Osten einzustellen, markierte den Beginn der "konstruktiven Zerstörung". Das Ziel besteht nicht nur darin, die erlahmende, wenn auch wirklich gefährliche Trägheit des geostrategischen Vorstoßes des Westens zu stoppen, sondern auch damit zu beginnen, den Grundstein für eine neue Art von Beziehungen zwischen Russland und dem Westen zu legen, die sich von dem unterscheiden, was wir in den 1990er-Jahren festgelegt haben.
Russlands militärische Fähigkeiten, das zurückkehrende Gefühl der moralischen Rechtschaffenheit, die Lehren aus den Fehlern der Vergangenheit und ein enges Bündnis mit China könnten dazu führen, dass der Westen, der die Rolle des Gegners gewählt hat, anfängt, vernünftig zu sein, wenn auch nicht immer. Dann, so hoffe ich, wird in einem Jahrzehnt oder früher ein neues System der internationalen Sicherheit und Zusammenarbeit aufgebaut, das diesmal den gesamten Großraum Eurasien einbezieht und auf den Grundsätzen der Vereinten Nationen und des Völkerrechts beruht und nicht auf einseitigen "Regeln", die der Westen der Welt in den letzten Jahrzehnten aufzuzwingen versucht hat. …
Die schön formulierte Charta von Paris für ein neues Europa, die 1990 unterzeichnet wurde, enthielt eine Erklärung über die Assoziationsfreiheit – die Länder konnten sich ihre Verbündeten aussuchen, was nach der Erklärung von Helsinki von 1975 unmöglich gewesen wäre. Da der Warschauer Pakt zu diesem Zeitpunkt auf dem Zahnfleisch ging, bedeutete diese Klausel, dass die NATO die Möglichkeit hatte, sich zu erweitern. Auf dieses Dokument berufen sich alle, auch in Russland. Damals, 1990, konnte die NATO jedoch zumindest als "Verteidigungs"-Organisation bezeichnet werden. Das Bündnis und die meisten seiner Mitglieder haben seitdem eine Reihe aggressiver Militäraktionen durchgeführt – gegen die Überreste Jugoslawiens, aber auch im Irak und in Libyen. …
1997 unterzeichnete das wirtschaftlich schwache und vom Westen völlig abhängige Russland die Grundakte über gegenseitige Beziehungen, Zusammenarbeit und Sicherheit mit der NATO. Moskau gelang es, dem Westen bestimmte Zugeständnisse abzuringen, wie etwa die Zusage, keine großen militärischen Einheiten in die neuen Mitgliedstaaten zu entsenden. Gegen diese Verpflichtung hat die NATO konsequent verstoßen. Eine weitere Vereinbarung bestand darin, diese Gebiete frei von Atomwaffen zu halten. Die USA hätten dies ohnehin nicht gewollt, da sie versucht hatten, sich von einem möglichen Atomkonflikt in Europa so weit wie möglich zu distanzieren (trotz der Wünsche ihrer Verbündeten), da dies zweifellos einen Atomschlag gegen Amerika zur Folge hätte. In Wirklichkeit legitimierte das Dokument die Expansion der NATO. …
Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) ist überholt. Sie wird von der NATO und der EU dominiert, die die Organisation nutzen, um die Konfrontation in die Länge zu ziehen und die politischen Werte und Normen des Westens allen anderen aufzuzwingen. Glücklicherweise wird diese Politik immer weniger wirksam. Mitte der 2010er-Jahre hatte ich die Gelegenheit, mit dem OSZE-Gremium bedeutender Persönlichkeiten (was für ein Name!) zusammenzuarbeiten, das ein neues Mandat für die Organisation entwickeln sollte. Und wenn ich schon vorher Zweifel an der Effektivität der OSZE hatte, so hat mich diese Erfahrung davon überzeugt, dass sie eine äußerst destruktive Institution ist. Sie ist eine antiquierte Organisation mit der Aufgabe, Dinge zu bewahren, die überholt sind. In den 1990er-Jahren diente sie als Instrument, um jeden Versuch Russlands oder anderer, ein gemeinsames europäisches Sicherheitssystem zu schaffen, zu begraben; in den 2000er-Jahren hat der sogenannte Korfu-Prozess die neue russische Sicherheitsinitiative zum Erliegen gebracht.
Praktisch alle UN-Institutionen wurden aus dem Kontinent verdrängt, einschließlich der UN-Wirtschaftskommission für Europa, ihres Menschenrechtsrates und des Sicherheitsrates. Einst galt die OSZE als nützliche Organisation, die das UN-System und die UN-Prinzipien auf einem wichtigen Subkontinent fördern sollte. Dazu ist es nicht gekommen. …
Der vielversprechendste Weg für Russland liegt in der Entwicklung und Stärkung der Beziehungen zu China. Eine Partnerschaft mit Peking würde das Potenzial beider Länder um ein Vielfaches steigern. Wenn der Westen seine erbittert feindselige Politik fortsetzt, wäre es nicht unvernünftig, ein zeitlich begrenztes fünfjähriges Verteidigungsbündnis mit China in Betracht zu ziehen.
Mag sein, dass die russische Führung darauf hoffte, nach einem schnellen Sieg über die Ukraine an einen Neuaufbau der internationalen Beziehungen zu gehen, dem der Westen sich letztlich anschließen müsse. Russland hat zwar große Landgewinne gemacht, aber keinen sieg über die ukrainische Regierung erzielt. Und ob diese territorialen Erfolge dauerhaft bleiben werden, ist noch nicht ausgemacht. Ohne Sieg in Kiew ist aber eine politische Lösung, die die ganze Ukraine umfasst, für Russland nicht möglich. Der Anschluss der vier Oblaste Donezk und Lugansk, Cherson und Saporoschje ist Folge einer notwendigen Umorientierung: Behalten (hoffentlich), was man hat; eine Maßnahme auf dem Rückzug. Denn sie bedeutet, dass Russland die Gebiete westlich dieser Bezirke der ukrainischen Regierung, damit letztlich dem Zugriff der Nato überlässt. Putins Rede vom 21.09.2022 zur Eingliederung nimmt keinen Bezug mehr auf europäische Sicherheitssysteme, sondern baut auf einem Gegensatz zwischen dem Westen, unter der Hegemonie der USA, und Russland5:
Wie Sie wissen, in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk, in den Regionen Saporischschja und Cherson wurden Volksabstimmungen abgehalten. Ihre Ergebnisse wurden zusammengefasst, die Ergebnisse sind bekannt. Die Menschen haben ihre Wahl getroffen, eine eindeutige Entscheidung.
Heute unterzeichnen wir Abkommen über die Aufnahme der Volksrepublik Donezk, der Volksrepublik Lugansk, der Region Saporischschja und der Region Cherson in Russland. Ich bin zuversichtlich, dass die Bundesversammlung die Verfassungsgesetze über die Annahme und Bildung von vier neuen Regionen und vier neuen Regionen der Russischen Föderation in Russland unterstützen wird, denn dies ist der Wille von Millionen von Menschen.
(Beifall)
Und das ist natürlich ihr Recht, ihr unveräußerliches Recht, das im ersten Artikel der UN-Charta verankert ist, der ausdrücklich das Prinzip der Gleichberechtigung und Selbstbestimmung der Völker festlegt.
Lassen Sie mich wiederholen: Dies ist das unveräußerliche Recht der Menschen, es basiert auf der historischen Einheit, in deren Namen Generationen unserer Vorfahren, diejenigen, die Russland seit den Ursprüngen des alten Russlands jahrhundertelang geschaffen und verteidigt haben, gewonnen haben. Hier, in Neurussland, kämpften Rumjanzew, Suworow und Uschakow, Katharina II. und Potemkin gründeten neue Städte. Unsere Großväter und Urgroßväter standen hier während des Großen Vaterländischen Krieges bis zum Tod. …
Hinter der Wahl von Millionen Einwohnern in den Volksrepubliken Donezk und Lugansk, in den Regionen Saporoshje und Cherson steht unser gemeinsames Schicksal und unsere tausendjährige Geschichte. Die Menschen gaben diese spirituelle Verbindung an ihre Kinder und Enkelkinder weiter. Trotz aller Prüfungen trugen sie durch die Jahre die Liebe zu Russland. Und niemand kann dieses Gefühl in uns zerstören. Deshalb haben sowohl die älteren Generationen als auch die jungen Menschen, die nach der Tragödie des Zusammenbruchs der Sowjetunion geboren wurden, für unsere Einheit, für unsere gemeinsame Zukunft gestimmt. …
Es gibt keine Sowjetunion, die Vergangenheit kann nicht zurückgegeben werden. Und Russland braucht es heute nicht, wir streben nicht danach. Aber es gibt nichts Stärkeres als die Entschlossenheit von Millionen von Menschen, die sich durch ihre Kultur, ihren Glauben, ihre Traditionen, ihre Sprache als Teil Russlands betrachten, dessen Vorfahren jahrhundertelang in einem einzigen Staat gelebt haben. Es gibt nichts Stärkeres als die Entschlossenheit dieser Menschen, in ihr wahres, historisches Vaterland zurückzukehren. …
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion entschied der Westen, dass die Welt, wir alle, uns für immer mit ihren Diktaten abfinden müssten. Dann, 1991, hoffte der Westen, dass Russland sich von solchen Umbrüchen nicht erholen und weiterhin von selbst zerfallen würde. Ja, es wäre fast passiert – wir erinnern uns an die 90er, die schrecklichen 90er, hungrig, kalt und hoffnungslos. Aber Russland hat Widerstand geleistet, wiederbelebt, gestärkt und seinen rechtmäßigen Platz in der Welt wiedererlangt.
Gleichzeitig suchte und sucht der Westen nach einer neuen Chance, uns zu treffen, Russland zu schwächen und zu zerstören, von dem immer geträumt wurde, unseren Staat zu zersplittern, Völker gegeneinander auszuspielen, sie zu Armut und Auslöschung zu verurteilen. Es verfolgt sie einfach, dass es ein so großes, riesiges Land auf der Welt gibt mit seinem Territorium, seinen natürlichen Ressourcen, seinen Ressourcen, mit einem Volk, das niemals nach den Befehlen eines anderen leben kann und wird. …
Ich möchte noch einmal betonen, dass gerade aus Gier, in der Absicht, seine uneingeschränkte Macht zu erhalten, die wahren Gründe für den hybriden Krieg sind, den der "kollektive Westen" gegen Russland führt. Sie wollen keine Freiheit für uns, sie wollen, dass wir eine Kolonie sind. Sie wollen keine gleichberechtigte Zusammenarbeit, sondern Raub. Sie wollen uns nicht als freie Gesellschaft sehen, sondern als eine Menge seelenloser Sklaven. …
Washington fordert immer mehr Sanktionen gegen Russland, und die meisten europäischen Politiker stimmen dem pflichtbewusst zu. Sie verstehen klar, dass die Vereinigten Staaten, die auf die vollständige Ablehnung russischer Energie und anderer Ressourcen durch die EU drängen, praktisch daran arbeiten, Europa zu deindustrialisieren, den europäischen Markt vollständig zu übernehmen – sie verstehen alles, diese Eliten sind Europäer, sie verstehen alles, sie ziehen es vor, den Interessen anderer Menschen zu dienen. Dies ist kein Lakai mehr, sondern ein direkter Verrat an ihren Völkern. Aber Gott ist mit ihnen, es ist ihre Sache.
Aber die Angelsachsen haben nicht mehr genug Sanktionen, sie sind zur Sabotage übergegangen – unglaublich, aber eine Tatsache – nachdem sie Explosionen an den internationalen Gaspipelines von Nord Stream organisiert haben, die entlang des Grundes der Ostsee verlaufen, haben sie tatsächlich begonnen, die paneuropäische Energieinfrastruktur zu zerstören. Es ist für jeden offensichtlich, der davon profitiert. Wem es nützt, der hat es natürlich getan.
Das Diktat der Vereinigten Staaten basiert auf roher Gewalt, auf Faustgesetz. …
Heute kämpfen wir für einen fairen und freien Weg, vor allem für uns selbst, für Russland, dafür, dass Diktat und Despotismus für immer in der Vergangenheit bleiben werden. Ich bin überzeugt, dass die Länder und Völker verstehen, dass eine Politik, die auf dem Exzeptionalismus eines jeden, auf der Unterdrückung anderer Kulturen und Völker aufbaut, im Wesentlichen kriminell ist, dass wir diese beschämende Seite aufschlagen müssen. Der Zusammenbruch der westlichen Hegemonie, der begonnen hat, ist unumkehrbar. Und wieder wird es nicht mehr so sein. …
Das Schlachtfeld, auf das uns das Schicksal und die Geschichte gerufen haben, ist das Schlachtfeld für unser Volk, für das große historische Russland. (Beifall) Für das große historische Russland, für zukünftige Generationen, für unsere Kinder, Enkel und Urenkel. Wir müssen sie vor der Versklavung schützen, vor monströsen Experimenten, die darauf abzielen, ihr Bewusstsein und ihre Seele zu lähmen.
Die Rede enthält keinerlei Aussagen über einen zukünftigen Frieden, weder über einen Weg dort hin noch über seine Gestaltung. Man könnte sagen, dass das auch nicht das Thema der Rede ist.
Jedoch wäre Auskunft darüber zu erwarten gewesen, wie dieser Anschluss der vier Oblaste international durchgesetzt werden kann. Das ist ja keine formale Kleinigkeit, die sich irgendwo in den Höhen des Staats- und Völkerrechts abspielt. Es geht vielmehr um alltäglich-handfest-praktische Dinge. Dass internationale Kreditkarten dort am Geldautomat nicht funktionieren, dürfte das geringste Problem sein. Alles, was irgendeine Amtlichkeit braucht und von dort kommt, wird international nicht gültig sein, Zeugnisse beispielsweise. Die russische Außenpolitik müsste bemüht sein, in ein paar Jahren einen modus vivendi zu schaffen.
Aber von all dem nichts in Putins Rede. Die scharfen Angriffe gegen den Westen helfen da auch nicht weiter.
Nach dieser Rede Putins hat RT einen Text des russischen Politologen Geworg Mirsajan über die Möglichkeiten von Verhandlungen veröffentlicht6:
Moskau wird bei den Verhandlungen über das Ende des Ukraine-Konflikts nicht mehr die ersten Schritte in Richtung Westen unternehmen. Das sagte der russische Außenminister Sergei Lawrow. …
Diese Aussage ist ziemlich drastisch, wenn man bedenkt, dass Moskau in all diesen Monaten immer wieder seine Bereitschaft zu einer friedlichen Lösung aller Kontroversen um die Ukraine demonstriert hat (natürlich auf der Grundlage der Ziele, die Präsident Putin vor Beginn der militärischen Sonderoperation festgelegt hat – d. h. Entnazifizierung, Entmilitarisierung usw.). Für diejenigen, die sich an Lawrows frühere Äußerungen darüber erinnern, wohin die weitere Verzögerung des Verhandlungsprozesses durch Kiew führen wird, sollte sie jedoch gar nicht so drastisch erscheinen. "Wenn sie uns um die Wiederaufnahme des diplomatischen Prozesses bitten (wozu die Europäer sie meines Wissens nach drängen, aber die Angelsachsen es nicht zulassen), werden wir uns die Lage vor Ort ansehen", sagte der Minister im Juni. Und nun hat sich die Situation "vor Ort" geändert.
Und vor allem hat sie sich dank der Referenden in den befreiten Gebieten verändert. Referenden, nach deren Ergebnissen die Volksrepubliken Donezk und Lugansk sowie die Regionen Cherson und Saporoschje in ihren 'Heimathafen Russland' zurückkehren.
Die Angliederung der befreiten Gebiete an Russland wird zu einer Art Punkt ohne Wiederkehr. Für Moskau wird es nicht mehr möglich sein, über die Rückkehr dieser Gebiete unter die Kontrolle des Kiewer Regimes zu verhandeln. Schon die Aufnahme solcher Verhandlungen wäre ein Verstoß gegen die russische Verfassung, denn das Grundgesetz des Landes verbietet es, auch nur über die Frage der Abtrennung russischer Regionen zu sprechen. …
Natürlich werden einige sagen, dass ein "Einfrieren des Konflikts" auf der Grundlage des derzeitigen Status quo der Ausweg sein könnte. … Aber man muss verstehen, dass die Russische Föderation eine Großmacht ist, und der Status einer Großmacht bedeutet nicht, dass ein Teil ihres Staates langfristig von einem anderen Land besetzt wird. …
Schließlich sind Friedensgespräche auch deshalb unwahrscheinlich, weil Russland nach Ansicht vieler Experten eine spezielle Militäroperation nicht durchführen kann, ohne eine Reihe anderer Regionen unter ukrainischer Kontrolle zu befreien. Zumindest die Regionen Sumy, Charkow und Tschernigow (um die "Flugdistanz" von 400 Kilometern zwischen ukrainischem Territorium und Moskau zu erhöhen) sowie die Regionen Nikolajew und Odessa. Auch die beiden letztgenannten Gebiete sind für Russland von entscheidender Bedeutung.
Nicht nur, weil die Menschen dort auf Russland warten. Nicht nur, weil die Befreiung von Odessa nach den Ereignissen vom Mai 2014 (Brand des Gewerkschaftshauses) der wichtigste symbolische Schritt ist. Und das nicht nur, weil diese Regionen derzeit der einzige Zugang der verbliebenen Ukraine zum Schwarzen Meer sind, sondern weil die Kontrolle über diese Regionen einen Landzugang zu Transnistrien ermöglichen würde. In dieser selbsternannten Republik leben bis zu eine halbe Million russische Bürger, deren Sicherheit von mehreren Tausend dort stationierten russischen Soldaten gewährleistet wird. …
Daher wird entweder ein Teil der Friedensgespräche darin bestehen, einen territorialen Korridor für Transnistrien zu sichern, der nicht unter ukrainischer Kontrolle steht (z. B. nach Süden – zum Schwarzen Meer, nach dem gleichen Prinzip, nach dem Aserbaidschan jetzt versucht, einen Korridor nach Nachitschewan zu erhalten). Oder Russland wird diesen Korridor selbst einrichten müssen. Es gibt keine dritte Option, zum Beispiel in Form von Garantien des Westens für die Unverletzlichkeit Transnistriens. Die Vereinigten Staaten können uns jetzt viel versprechen (wie sie es in Bezug auf die Nichterweiterung der NATO, die Einhaltung der Minsker Vereinbarungen, das Getreideabkommen usw. versprochen haben) und uns dann einfach täuschen. Aber wir lassen uns nicht mehr gerne täuschen.
Man kann im Westen kaum wissen, ob der Kommentator hier nur seine eigene Meinung wieder gibt oder ob er den Standpunkt der Regierung wieder gibt. Unterstellt man den worst case, dann ist dies die russische Ankündigung, den Krieg bis zum Anschluss der Oblaste Mikolajew und Odessa fort zu setzen. Die Ukraine wäre im Fall eines russischen Erfolgs nicht nur vom Schwarzen Meer abgeschnitten, also für einen Seezugang von Russland abhängig, es wäre wirtschaftlich schwer getroffen7 Die von Russland abgetrennten Bezirke sind die wirtschaftsstärksten. Die „Rest-Ukraine“ wäre möglicherweise nur noch mit ständigen westlichen Zuwendungen lebensfähig.
Vom Europa der Charta von Paris ist momentan in den Texten der russischen Politik nichts zu lesen, eine Wiederherstellung der Charta, gar ihre endgültige Realisierung findet sich nicht in diesen Texten.
Stattdessen lässt sich diese Politik so umreißen: Ziel ist, angesichts westlicher Herausforderungen so stark zu werden wie irgend möglich. Dazu gehört eine Politik der „Sammlung der russischen Erde“8. 2014 ging es um die Krim und den Donbass, jetzt wieder um den Donbass und weitere Teile der Ukraine. Ob diese Politik Anerkennung im Westen findet, ist gleichgültig. Stattdessen wird das Bündnis nach Osten und in den Süden gesucht, neuerdings sogar bis in die Südhalbkugel der Erde. Die Front wird ausgeweitet, nicht mehr nur Ost-Europa ist das Feld des Kampfes, dort ist Russland nicht eben erfolgreich, sondern das nähere Ausland in Asien, aber auch in Afrika und Lateinamerika. Das Russland dabei erfolglos wäre, kann man kaum sagen9.
Aber das hilft dem Frieden in Europa nicht. Russland hat gegenwärtig kein Konzept für den Frieden, über das man sagen könnte, der Westen möge es in Verhandlungen austesten. Hätte der Westen 1952 mit der Sowjetunion über die „Stalin-Note“ gesprochen, wären die deutsche Geschichte und die der Welt möglicherweise anders verlaufen. Aber ein vergleichbar historisches Angebot Russlands ist gegenwärtig nicht in Sicht.
Momentan wird immer wieder verlangt, der Westen möge eine Initiative starten, den Krieg in der Ukraine „einzufrieren“10. Diese Forderung war vor dem Anschluss der vier Bezirke einleuchtend. Das meinte, dass alle Kampfhandlungen zu einem vereinbarten Zeitpunkt eingestellt werden und die Politik in Verhandlungen zum Frieden übergehen soll. Russland hatte eroberte Gebiete, der Westen die Russland schädigen Sanktionen, da müsste doch ein Austausch möglich sein, der langsam, ganz langsam wieder zu einem kooperativen Europa führt. Aber der Anschluss der vier Bezirke hat Russland selbst stärker gefesselt, als es westliche Sanktionen je vermocht hätten: Nun ist kein Übergang zu einem völkerrechtlich gesicherten Frieden mehr möglich, es sei denn, Russland macht seine Handlungen rückgängig. Da hätte es nicht nur (selbstgeschaffene) verfassungsrechtliche Probleme, es würde vor allem die eigene Armee und Teile der eigenen Bevölkerung desavouieren: Erst kämpfen und dann dem Feind überlassen? Erst den Anschluss des eigenen Territoriums unterstützen und dann einer möglicherweise rachsüchtigen ukrainischen Regierung und ihrer von Bandera durchtränkten Armee wieder überlassen werden?
Ein dauerhafter Frieden braucht die Zustimmung sowohl der Weltgemeinschaft, der Staaten der Region und der Menschen vor Ort. Vor dem Anschluss wäre es möglich gewesen, Übergangslösungen zu finden: Dieser und/oder jener Teil der Ukraine wird zeitweilig unter diese oder jene Verwaltung gestellt, gesichert durch UN-Truppen, mit eigener politischer Repräsentation und Volksabstimmungen. und wenn das alles länger dauert als vorgesehen, wäre das auch nicht weiter schlimm, außer für Nationalisten.
Aber nun?
Mit dem gegenwärtigen Russland ist gegenwärtig, ausgehend vom „Einfrieren“ des Konfliktes / Kriegs über einen vereinbarten Waffenstillstand, ein völkerrechtlich klarer dauerhafter Friede nur um den Preis einer beschädigten Ukraine zu haben: Die Ukraine gibt und Russland nimmt.
Man wird, wenn man die Fortsetzung des Kriegs bis zu einem erzwungenen Waffenstillstand / Frieden nicht als Ziel sieht, eine Lösung unterhalb des Völkerrechts suchen müssen. Die Ukraine erkennt die Anschlüsse an Russland (2014 und 2022) nicht an, aber es wird ein praktischer Umgang gesucht. Die Grenze wird teils wieder geöffnet, Handel und Wandel wird teilweise wieder möglich. Vorbild könnte der „Grundlagenvertrag“ BRD - DDR von 197211 sein. Von dort her könnte vielleicht auch ein KSZE-Nachfolge-Prozess entwickelt werden, der die gescheiterte „Charta von Paris“ erneuert. – Eine erhebliche Zumutung an die Ukraine, die mit zig Unterstützungsmaßnahmen ausgeglichen werden muss.
Es ist schwierig, am Schreibtisch Procedere und Inhalt solch eines Vertrags zu entwerfen, das Leben entwickelt sich dann doch anders. Aber die Richtung kann angegeben werden.
Einwand gegen diese zugegeben nicht sehr konkrete Perspektive: Was machen die USA in der Zwischenzeit? Ihr bisheriges Ziel, formuliert vom US-Verteidungsminister Austin im April in Kiew12:
Das Ziel der US-Regierung sei es, die Demokratie und die Souveränität der Ukraine zu verteidigen und Moskau in die Schranken zu weisen, sagte Austin. „Wir wollen Russland in dem Ausmaß geschwächt sehen, dass es die Art von Dingen, die es mit dem Einmarsch in die Ukraine getan hat, nicht mehr machen kann.“
Im Oktober hat er kaum etwas anderes gesagt13:
Die Kontaktgruppe steht also geeint und entschlossen zusammen. Wir werden die Verteidigungskapazitäten der Ukraine weiter stärken – für den dringenden Bedarf von heute und auf lange Sicht.
Deshalb haben die Mitglieder dieser Gruppe der Ukraine neben humanitärer und finanzieller Hilfe auch Militärhilfe in Milliardenhöhe zugesagt. Wir haben zudem neue Investitionen in unser Rüstungswesen angeregt, um den Verteidigungsbedarf der Ukraine und auch unseren eigenen zu decken. Und meine Regierung ist fest entschlossen, der Ukraine zu helfen, sich gegen die russische Aggression zu verteidigen.
Von Seiten der USA und der Nato gibt es auch keine Vorschläge, wie der Krieg beendet werden kann. Kritik an der russischen Politik kann also nicht zum Wechsel ins Nato-Lager führen.
Die Erklärung einer Arbeitsgruppe mit Jeffrey Sachs und Romano Prodi, die im Vatikan getagt hat, ist immer noch der beste Text14. Daran ändern auch die jüngsten politischen Ereignisse nichts15.
Fußnoten:
„Im Zentrum der russischen Forderung steht die Charta für die Europäische Sicherheit, die von der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) 1999 in Istanbul verabschiedet und 2010 während eines Gipfels in Astana erweitert wurde. In dieser Charta findet sich der Grundsatz, dass jeder Staat auf der Suche nach Sicherheit frei ein Bündnis wählen dürfe. Gleichzeitig wird aber auch festgehalten, dass kein Staat seine Sicherheit auf Kosten anderer Staaten vergrößern dürfe. Diesen Widerspruch nutzt Russland für seine Argumentation und beklagt, dass der Westen stets nur das Recht auf Bündniswahl für sich reklamiere, den zweiten Teil der Vereinbarung aber nicht respektiere. "So funktioniert es nicht", schreibt Lawrow, "die Bedeutung der Vereinbarung über die Unteilbarkeit von Sicherheit heißt doch, dass es entweder Sicherheit für alle oder keine Sicherheit für niemanden gibt."
Der Widerspruch im Vertragstext ist bekannt und war bisher nur unter Experten thematisiert worden In der OSZE wurde darüber in einem sogenannten strukturierten Dialog beraten. Auch der Nato-Russland-Rat beschäftigte sich damit. Andere Verträge zur europäischen Sicherheit wie die Charta von Paris oder die Nato-Russland-Grundakte verweisen ausschließlich auf die Souveränität der Staaten und die Unverletzbarkeit von Grenzen. Auch die Anwendung der Verträge in den vergangenen Jahren, nicht zuletzt durch Russland selbst, trägt zum Interpretationsspielraum bei.
Lawrow hatte die neue Argumentationslinie Moskaus bereits bei den letzten Begegnungen mit US-Außenminister Tony Blinken oder der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock aufblitzen lassen. Der Brief macht nun deutlich, dass Russland dieses Thema ins Zentrum der Verhandlungen mit den USA und den Nato-Staaten schieben könnte.“
https://www.sueddeutsche.de/politik/russland-ukraine-osze-lawrow-diplomatie-1.5519884
Ich verwende dazu Texte aus RT und Reden des Präsidenten Putin. Die innerrussische Bedeutung der RT-Texte, verfasst von Leuten, die als wichtibe Politologen vorgestellt werden, kann ich natürlich nicht einschätzen.
https://konflikt/ „Geworg Mirsajan ist ein Dozent des Lehrstuhls für Politologie der Finanzuniversität bei der Regierung der Russischen Föderation. Als Kolumnist und Experte für internationale Beziehungen tritt er regelmäßig in Polittalkshows im russischen Fernsehen statt.“
Das ist etwas anderes als „russischer Imperialismus“, allerdings auch nicht widerspruchsfrei: Sind nur die ethnischen Russen gemeint? Was gehen diese Leute die vielen „russländischen“ (ungleich: russischen) Völkerschaften Russlands an?
Anders als https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/krieg-in-der-ukraine-putins-sturzflug-bei-den-vereinten-nationen-18387837.html. Zählt man die Staaten, die dem Westen nicht folgen, nach ihrer Bevökerungszahl, und nimmmt man jene hinzu, die zwar gegen Russland stimmen, aber sich nicht an den Sanktionen beteiligen, hinzu, dann ist eher der Westen weltweit isoliert. Es hängt davon ab, was man zählt.
https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/warum-der-ukraine-krieg-eingefroren-werden-muss, https://www.jungewelt.de/artikel/435360.kampf-um-den-donbass-der-westen-m%C3%BCsste-einen-status-quo-akzeptieren-der-ihm-nicht-gef%C3%A4llt.html, dagegen https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deitelhoff-waffenstillstand-ukraine-krieg-russland-100.html
Allerdings gibt es Notwendigkeiten der Anpassung, insbesondere Punkt 4 des Vorschlags für ein Friedensabkommen.
Created: 2022-10-16 Sun 17:10