Mal nach rückwärts sehen. Den Dezember 21 hier im Blog noch einmal
lesen. Wo waren die Fehler?
„Raus aus der Eskalationsspirale! Für einen Neuanfang
im Verhältnis zu Russland (5.12.2021)"
https://www.johannes-varwick.de/rauf/AUFRUF_Raus-aus-der-Eskalationsspirale_05122021-3.pdf
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| Eine einseitig auf Konfrontation und Abschreckung setzende Politik ist
| nicht erfolgreich; wirtschaftlicher Druck und die Verschärfung von
| Sanktionen haben – dies zeigt die Erfahrung der vergangenen Jahre –
| Russland nicht zur Umkehr bewegen können. Vielmehr sieht sich Russland
| aufgrund der westlichen Politik herausgefordert und sucht durch
| aggressives Auftreten die Anerkennung als Großmacht auf Augenhöhe mit
| den USA sowie die Wahrung seines Einflussbereiches im postsowjetischen
| Raum. Damit steigen die Gefahren für die russische Wirtschaft
| (Ausschluss aus dem SWIFT-System) und einer Destabilisierung der
| Sicherheitslage besonders in Europa deutlich.
|
| All dies darf seitens des Westens nicht als Entschuldigung für
| tatenloses Zusehen oder für die Akzeptanz der Eskalationsverstärkung
| verstanden werden. Die NATO sollte aktiv auf Russland zugehen und auf
| eine Deeskalation der Situation hinwirken. Hierzu sollte auch ein
| Treffen ohne Vorbedingungen auf höchster Ebene nicht ausgeschlossen
| werden. Wir brauchen im Grundsatz einen vierfachen politischen Ansatz:
|
| • Erstens: Eine hochrangige Konferenz, die auf der Grundlage der
| fortbestehenden Gültigkeit der Helsinki-Schlussakte 1975, der Charta von
| Paris 1990 und der Budapester Vereinbarung von 1994, aber ohne
| Vorbedingungen und in unterschiedlichen Formaten und auf verschiedenen
| Ebenen über das Ziel einer Revitalisierung der europäischen
| Sicherheitsarchitektur berät.
|
| • Zweitens: Solange diese Konferenz tagt – und dafür wäre
| realistischerweise ein Zeitraum von mindestens zwei Jahren anzusetzen
| –,sollte auf jede militärische Eskalation auf beiden Seiten verzichtet
| werden. Es sollten der Verzicht auf eine Stationierung von zusätzlichen
| Truppen und die Errichtung von Infrastruktur auf beiden Seiten der
| Grenze der Russischen Föderation zu ihren westlichen Nachbarn ebenso wie
| die vollständige beiderseitige Transparenz bei Militärmanövern
| vereinbart werden.
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Die Forderung nach einer Besinnungspause, unterzeichnet von über zwanzig
ehemaligen deutschen Militärs, Diplomaten und einigen Friedensforschern.
Eine Gegenargumentation:
„Gegenrede zum geforderten „Neuanfang im Verhältnis zu Russland".
09.12.2021 von Kersten Lahl"
https://www.gsp-sipo.de/news/news-details/gegenrede-zum-geforderten-neuanfang-im-verhaeltnis-zu-russland
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| Wenn man zudem Russlands Sicherheitsbedürfnis jenseits aller Rhetorik
| analysiert, so wird deutlich: Es gibt wenig Grund für die Annahme einer
| territorialen Bedrohung im klassischen Sinn. Wer sollte denn wo auf
| russischem Territorium einmarschieren können oder wollen? Die Ukraine?
| Polen? Nato-Truppen? Jeder Gedanke daran ist absurd. Weder Motive noch
| Kräfte sind erkennbar. Nein, Putin kann sich bei nüchterner Betrachtung
| allenfalls davor fürchten, seine Ambitionen auf die so verzweifelt
| angestrebte Großmachtrolle weiter zu schmälern – und damit
| möglicherweise auch innenpolitisch unter zusätzlichen Druck zu
| geraten. Aber sind das Gründe, die uns im Westen dazu bewegen sollten,
| die eigene Sicherheitsvorsorge aus dem Auge zu verlieren? ...
|
| Wenn die Autoren nun als Lösung eine „hochrangige Konferenz"
| vorgeschlagen, dies mit dem Ziel einer Revitalisierung der europäischen
| Sicherheitsarchitektur, dann klingt das prima – und auch ein wenig
| typisch deutsch. Der Ansatz ist freilich weder neu noch derzeit wirklich
| reif. Konferenzen sind kein Selbstzweck, außer dass man damit vielleicht
| Zeit erkaufen (oder auch verlieren) kann. Bevor man sie fordert, sollte
| man sich jedenfalls erst mal über die eigenen Eckpunkte klar
| werden. Also darüber, was denn unsere strategischen Interessen sind –
| über den selbstverständlichen Wunsch hinaus, den Einsatz von
| Waffengewalt möglichst zu verhindern? Welche elementaren Punkte sind für
| uns verhandelbar, welche nicht – gerade auch mit Blick auf Russlands
| Wünsche? Oder auch vertiefend gefragt: Was ist eigentlich (nicht)
| Europa? Welche Werte verbinden uns (nicht)? ...
|
| In jedem Falle hochriskant ist der Vorschlag, während der mindestens (!)
| zweijährigen Konferenzdauer auf „eine Stationierung von zusätzlichen
| Truppen und die Errichtung von Infrastruktur auf beiden Seiten der
| Grenze der Russischen Föderation zu ihren westlichen Nachbarn" zu
| verzichten. Wie bitte? Soll das etwa die einseitigen
| Selbstbeschränkungen der Nato-Russland-Akte von 1997 erweitern? Es würde
| ja im Kern bedeuten, alle weiteren Vorkehrungen (Stichwort
| z.B. infrastrukturelle Voraussetzungen für die Verlegefähigkeit von
| Verstärkungstruppen) für die noch völlig unzureichende und aus
| geostrategischen Gründen extrem schwierige Bündnisverteidigung etwa auf
| baltischem Boden zu beenden bzw. zu unterbrechen.
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Vermutlich war es illusionär, eine große Konferenz der Europäischen
Sicherheit zu fordern, eine KSZE2-0. Dazu war die Konfrontation schon zu
scharf. Aber es war dennoch richtig. Denn auch der jetzige Krieg wird
sich nur in einer großen, Europa insgesamt umfassenden Gesamtlösung
endgültig befrieden lassen. Nur wird solch eine Lösung jetzt sehr viel
schwerer zu finden sein, beide Seiten werden große Schwierigkeiten
haben, wenn sie Zugeständnisse an ihre Bevölkerungen vermitteln sollen,
nach all den Opfern.
Das Gegenargument ist: Das geht gar nicht, denn dann können wir ja
unsere Stützpunkte im Baltikum nicht ausbauen! Ein Argument, das
angesichts der Gefahr und der späteren Realität von unfassbarer
Lächerlichkeit ist.
(Dass eine Ukraine in der Nato der Nato den russischen Stützpunkt
Sewastopol, der für die überseeische Geltung Russlands von großer
Bedeutung ist, geben würde, also die Politik Russlands in der Tat
bedroht, kommt in der Gegenargumentation noch nicht mal vor ...)
„Ukrainians Are Far From Unified on NATO. Let Them Decide for
Themselves."
https://truthout.org/articles/ukrainians-are-far-from-unified-on-nato-let-them-decide-for-themselves/
Niemand fragte damals in die ukrainische Gesellschaft hinein, was sie
außenpolitisch will. Und weil sie im Inneren immer noch keine
funktionierende Demokratie war, sondern Gewalt ein große Rolle spielte,
wurde die mit dem Minsk-Abkommen gegebene Chance einer Neuintegration
der politisch, kulturell und ethnisch sehr vielfältigen Ukraine
verhindert. Es dominierte stattdessen allseitig ein kolonialer Blick:
Die Ukraine hat zu tun, was wir wünschen.
„Von Russlandverstehern, kalten Kriegern und Realpolitik - RÜDIGER
LÜDEKING am 27. Dezember 2021"
https://www.cicero.de/aussenpolitik/nato-erweiterung-von-russlandverstehern-kalten-kriegern-und-realpolitik
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| Die Ost-Erweiterung des westlichen Verteidigungsbündnisses traf nie auf
| russische Gegenliebe. Dennoch wurde sie zu Beginn von gewissen
| Rücksichtnahmen flankiert. Damit ist Schluss, seit Außenpolitik
| „wertebasiert" sein soll, wie es auch die neue Bundesregierung
| propagiert. Doch ein Verkennen russischer Interessen trägt zur
| Eskalation bei - dabei ist es völlig egal, wer moralisch auf der
| richtigen Seite steht. ...
|
| Die aktuellen Äußerungen vieler Nato-Regierungen wie auch westlicher
| Beobachter sind jedoch unverändert von einem auf Konfrontation setzenden
| Geist und der Absicht geprägt, durch wirtschaftliche Sanktionsmaßnahmen
| Russland in die Knie zu zwingen. Ein Eingehen auf Verhandlungen mit
| Russland oder der Verzicht auf die Aufnahme der Ukraine in die Nato
| werden als Appeasement gegeißelt. Den „kalten Kriegern", die diese Linie
| verfolgen, sollte die Gefährlichkeit aber auch die voraussichtliche
| Erfolglosigkeit einer derart kompromisslosen Haltung bewusst sein; die
| als demütigend empfundene Androhung oder Verhängung von Sanktionen in
| aller Öffentlichkeit wird Russland nicht zum Nachgeben bewegen. Zudem
| sieht sich das auch militärisch wiedererstarkte Russland heute in einer
| stärkeren Position als noch bei Umsetzung der ersten
| Nato-Erweiterungen.
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Die „Rücksichtnahme" der Nato gegen Russland ging in der ersten
Erweiterungsrunde so weit, dass die neuen Nato-Mitglieder eigentlich nur
ein Mitberatungsrecht in der Nato bekamen, mehr nicht: Keine
Nato-Stationierungen von irgendwie beachtlichem Ausmaß, keine
Atomwaffen. Man könnte sogar sagen, dass diese Art der Nato-Erweiterung
Russland entgegenkam: Die polnisch-litauischen Träume zur
Wiederherstellung einer großen „Rzeczpospolita" von der Ostsee bis zum
Schwarzen Meer waren damit erst einmal beendet, diese Staaten sollten
sich die Charta v Paris einfügen.
Aber diese Politik drehte sich: Jeder darf tun und lassen, was er will,
die früher eingegangen Verpflichtungen waren rechtlich nicht gültig,
alles andere war Appeasement.
Dass das Appeasement der Westens gegenüber Hitler seine Aggressivität
steigerte, gilt als sicher. (Dass diese Politik Hitler nach Osten, gegen
die Sowjetunion lenken, sie also befördern sollte, wird übersehen.) Wer
dem Aggressor gegenüber auf Appeasement verzichtet, macht ihn also zwar
wütender, aber gleichzeitig auch friedlicher, hält ihn gegen seinen
Willen von aggressiven Handlungen ab, in diesem Fall Russland von einem
Krieg gegen die Ukraine. Die Ukraine muss in die Nato eintreten können.
Russland hat diesen Krieg aber am 24.02. begonnen. Die Vermeidung des
„Appeasements" hat also genau jenes Resultat gehabt, dass durch ein
„Appeasement" angeblich befürchtet wurde.
Das ist zweifellos eine wirre Rede, aber nicht nur. Dass Russland nur
dann Frieden gibt, wenn es dazu gezwungen wird, ist Stand der
Argumentation. Vor dem Krieg hieß es: Wer Russland nachgibt, führt den
Krieg herbei. Als man nicht nachgab, der Krieg trotzdem kam, hieß es,
dass man Russland nicht nachgeben dürfe, es vielmehr im Krieg besiegt
werden müsse. Weil der Sieg nicht gelingt, sondern Russland seine
Kriegsziele erweiterte („Die halbe Ukraine uns, und der Rest darf auch
nicht die Nato."), muss der Krieg verlängert werden, bis Russland doch
nachgibt, nachgeben wird.
Dabei weiß niemand, wo der Punkt ist, an dem Russland sich gezwungen
sehen könnte, nachzugeben. Es könnte sein, dass er so weit hinter dem
Horizont liegt, dass Europa dann schon zerstört ist. Egal.
Die russischen Vertragsentwürfe enthielten beispielsweise diesen Artikel:
https://augengeradeaus.net/2021/12/russlands-vorschlaege-fuer-vertraege-ueber-sicherheitsgarantien-faktisch-ein-ende-der-nato-neufassung/comment-page-1/
https://www.leps.de/2022/08/16/materialien-zum-russisch-ukrainischen-krieg/#org970dcbe
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| Artikel 4
|
| Die Vereinigten Staaten verpflichten sich, eine weitere Osterweiterung
| der Nordatlantikpakt-Organisation auszuschließen und die Aufnahme von
| Staaten, die früher zur Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken
| gehörten, in das Bündnis zu verweigern.
|
| Die Vereinigten Staaten errichten keine Militärstützpunkte im
| Hoheitsgebiet von Staaten, die früher zur Union der Sozialistischen
| Sowjetrepubliken gehörten und nicht Mitglied der
| Nordatlantikpakt-Organisation sind, nutzen deren Infrastruktur nicht zur
| Durchführung militärischer Aktivitäten und entwickeln keine bilaterale
| militärische Zusammenarbeit mit ihnen.
`----
Dieser Abschnitt passte genau auf das russische Bedürfnis, Sewastopol zu
sichern. Das ist nicht unverständlich.
Unverständlich jedoch, wie Russland zu der Annahmen kommen konnte, der
Westen könnte solche Entwürfe notfalls akzeptieren, wenn ihm denn gar
nichts anderes übrig blieb. Die Kräfteverhältnisse waren einfach nicht
danach. Damit begab sich Russland selbst in eine Falle. Denn auf die
vorhersehbare Zurückweisung musste es reagieren. (Oder hat Russland das
nicht so gesehen?) Politische und wirtschaftliche Zwangsmaßnahmen
standen Russland nicht zu Verfügung. Mehr als die Verstärkung
militärischer Präsenz war nicht (mehr) möglich. Ein dreiviertel Jahr
vorher hatte das geholfen, als die Ukraine nach einem Selenskij-Dekret
sich um Rückholung der Ukraine zu bemühen schien. Die ukrainische Armee
verringerte ihre Präsenz. Aber in der Zwischenzeit hatten die USA und
die Ukraine eine gemeinsame Sicherheitscharta verabschiedet. Und es ging
auch nicht darum, einem Haufen Soldaten die (zeitweilige) Rückfahrt zu
befehlen. Sondern mit der Verstärkung von Militär irgendwo in der
Nähe der Ukraine, also in für die Welt unbekannter Pampa, sollte der
Lauf der Weltpolitik, gar der Weltpolitik verändert werden.
Und als das nicht klappte, wurde diese Armee sogar in Marsch gesetzt, zu
klein, zu schlecht ausgerüstet, in aller militärischen und politischen
Fehleinschätzung.
„The propaganda that damned Ukraine -- Moscow, Kyiv and Washington are
caught in a fog of miscalculation"
https://unherd.com/2024/01/the-propaganda-that-damned-ukraine/
Die Politik hat bei ihren Handlungen immer wieder mit „nichtintendierten
Nebenfolgen" zu tun. Die Welt ist halt einfach zu kompliziert. Aber
gehören diese Fehleinschätzungen des Westens und Russlands auch in diese
Kategorie? Oder ist es schon schlichte Blödheit, die gleichzeitig die
Regierenden und die Regierten befällt?
Sozialwissenschaften hat man, damit über das Grundlegende, das
Nicht-Offensichtliche nachgedacht wird, aber so, dass die Erkenntnisse
in den Alltag eingehen können. Politikwissenschaft etwa soll politische
Blödheit verringern.
Ach, lassen wir das ...
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