Smarte Ratschläge – Kommentar
Dr. Horst Leps
Date: 8. Oktober 2021
So wichtig es ist, täglich die politics 1) der außen- und militärpolitischen „Elite(n)“ zu verfolgen, ab und zu ist es besser, eine Schritt zurück zu treten, und die policy zu betrachten, jenes Gemisch aus Gewohnheit, Konzept, Phantasie und Illusion, das die Politik bestimmt oder auch nur bestimmen soll. In Papieren aufgeschrieben oder Reden vorgetragen, können sie Einblick in grundlegende Motive und Ziele des Handelns politischer Akteure geben.
(Der eingerückte Teil ist Zitat, fast der ganze Text der DGAP.)
Smarte Souveränität
10 Aktionspläne für die künftige Bundesregierung
Wie die neue Bundesregierung Deutschlands und Europas Handlungsfähigkeit stärken und internationale Gestaltungskraft zurückgewinnen kann.
Dr. Christian Mölling, Prof. Dr. Daniela Schwarzer, Prof. Dr. Christian Calliess, Serafine Dinkel, Dr. Stefan Heumann, Anna-Lena Kirch, Dr. Friederike Otto, Dr. Claudia Major, Gerald Knaus, Dr. Tim Rühlig, Dr. Constanze Stelzenmüller, Dr. Kira Vinke, Dr. Guntram B Wolff
Bericht 20. September 2021https://dgap.org/de/forschung/publikationen/smarte-souveraenitaet
Die DGAP beschreibt sich so2:
Die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik engagiert sich für eine nachhaltige deutsche und europäische Außen- und Sicherheitspolitik, die auf Demokratie, Frieden und Rechtsstaatlichkeit ausgerichtet ist. Die 1955 gegründete Organisation ist parteipolitisch unabhängig und prägt als Forschungs- und Mitgliederorganisation die außenpolitische Debatte in Deutschland.
Expertinnen und Experten der DGAP beraten Verantwortliche in Politik, Wirtschaft und Zivilgesellschaft auf der Basis ihrer außenpolitischen Forschungsarbeit und bilden künftige Entscheiderinnen und Entscheider in internationalen Leadership-Programmen aus.
Mit ihrer Arbeit verfolgt die DGAP das Ziel,
- fundierte außenpolitische Entscheidungen zu ermöglichen
- die informierte außenpolitische Debatte in Deutschland zu fördern
- die außenpolitische Kompetenz in Deutschland weiterzuentwickeln
Es könnte sich also lohnen zu prüfen, was die „Elite“ der Politik-Schreiber der Elite der Politik-Macher zu sagen hat:
Die nächste Bundesregierung nimmt ihre Arbeit in einer Zeit schneller und mehrdimensionaler internationaler Veränderungen auf. Neue Bedrohungen, transnationale Risiken und eine immer stärkere Verwebung äußerer und innerer Entwicklungen fordern die Handlungsfähigkeit der Regierungen heraus. Die meisten Staaten – so auch Deutschland – verlieren an Gestaltungsmacht. Gleichzeitig wird es immer wichtiger, auf internationale Entwicklungen Einfluss nehmen zu können, um die klassischen innenpolitischen Staatsziele zu erreichen: Sicherheit, Wohlstand und politische Ordnung.
In solch ersten Sätzen will man Thema und Begründung umreißen, man bleibt notwendig allgemein. Dass die Welt immer komplizierter wird und das Handeln schwieriger, dürften schon die alten Griechen geschrieben haben. Sokrates war der erste und bis heute größte Philosoph der politischen Unübersichtlichkeit: Keiner seiner Zeitgenossen wusste mit klaren Begriffen zu sagen, wie die Welt aussieht und was man tun soll.
Insofern schließt der Text an ein uraltes Muster an; von Bedeutung wäre jedoch, ob er etwas zur Klärung der gegenwärtigen Verhältnisse zu sagen hat.
Eines fällt jedoch gleich auf: Deutschland verliert an Gestaltungsmacht! Dabei war das mal ganz anders gedacht: „Neue Macht - Neue Verantwortung“3, Deutschland als Einflussmacht von weltweiter Bedeutung. Hat nicht geklappt.
Experten - oder was so genannt wird - haben Aktionspläne zu zentralen Herausforderungen und Chancen deutscher Politik entworfen:
- Strukturen deutscher Außenpolitik
- Sicherheits- und Verteidigungspolitik
- Wirtschaft und Außenpolitik
- China und Außenpolitik
- Technologie und Außenpolitik
- Resilienz und Demokratie
- Klima und Außenpolitik
- Klimawandel und Sicherheit
- Migration und Außenpolitik
- Westlicher Balkan und EU-Nachbarschaft
Russland ist kein Thema in dieser Liste. Es gibt da kein Problem mehr: Die Einschätzung ist fertig. Wie mit Russland umzugehen ist, ist klar. - Die Sozialpolitik fehlt auch. Es scheint kein Problem zu sein, Rüstungsausgaben zu finanzieren. Soziale Probleme hat das jedenfalls nicht zur Folge, scheint man zu denken. Man könnte sich irren.
Dazu gibt es auch gleich ein neues Wort, dessen Halbwertzeit angesichts „smarter“ Systeme, das Wohnzimmer mit Glühlampen zu beleuchten, gering sein düfte: „Smart“ möge die neue Politik sein. - Wortgeklingel?
Wir empfehlen der neuen Bundesregierung den Ansatz der smarten Souveränität: Sie sollte die zunehmend begrenzten Machtressourcen gezielt so nutzen, dass sie einen weiteren Verlust an Gestaltungsspielraum und Einfluss verhindert und durch Kooperationen neue Handlungsoptionen eröffnet. Ziel ist es, ein weiteres strategisches Déclassement zu verhindern: Deutschland sollte in zentralen Bereichen nicht die Ziele anderer übernehmen müssen, sondern sich in die Lage versetzen, seine eigenen Ziele zu definieren und durchzusetzen. Ebenso sollte es die Ziele seiner Partner unterstützen können, wenn es dies für wichtig hält. ...
„Smart“ bedeutet, dass die ergriffenen Maßnahmen und Aktionen nicht nur eine vergleichsweise große Wirksamkeit bei der Problemlösung in verschiedenen Feldern haben sollen, sondern auch geringe negative Effekte durch unbeabsichtigte Folgen. Dies ist ein Kriterium, das auf die Effizienz des Machteinsatzes achtet. Das zweite Kriterium ist Suffizienz. Es gibt Maßnahmen, auf die nicht verzichtet werden kann, auch wenn man meint, mit gleichem Einsatz in anderen Bereichen mehr erreichen zu können. Diese Konkurrenz um Ressourcen trifft verstärkt die Sicherheitspolitik, zum Beispiel als Forderung, mehr Geld für Klimaschutz auszugeben und weniger für Verteidigung. Argumente dieser Art implizieren, es gäbe eine Wahl. Der Staat hat aber die Pflicht, in allen Bereichen existentieller Bedrohung Sicherheitsvorsorge zu leisten.
Und so verschwindet die zentrale politische Frage von Demokratie, der politischen Organisation der Verschiedenen: Wie wollen wir leben?4. Stattdessen geht darum, ein neues TINA (es gibt keine Alternative)5 zu schreiben: Es geht es nur noch um die Auswahl der Möglichkeiten auf dem nicht mehr zu wählenden, weil einzig möglichen Weg.
Aber vermutlich wendet sich der Text gar nicht an die Öffentlichkeit der Demokratie, sondern nur an einen kleinen Kreis von Politikern und Experten, die im Prinzip eh schon ausgewählt und eingeordnet sind, bei denen es aber in dieser und jener Frage noch Klärungsbedarf gibt. Man muss jedoch damit rechnen, dass diverse Multiplikatoren genau diese Sicht in den Massenmedien verbreiten werden; sie darf also so behandelt werden, als würde es sich an die demokratische Öffentlichkeit wenden.
Für diese gilt das Diktum von Noam Chomsky6:
„The smart (! aber vermutlich nur ein Zufall; HL) way to keep people passive and obedient is to strictly limit the spectrum of acceptable opinion, but allow very lively debate within that spectrum – even encourage the more critical and dissident views. That gives people the sense that there’s free thinking going on, while all the time the presuppositions of the system are being reinforced by the limits put on the range of the debate.“
„Der intelligente Weg, Leute passiv und fügsam zu halten, besteht darin, die Breite der akzeptablen Überzeugungen strikt zu begrenzen, jedoch innerhalb dieser Grenzen eine sehr lebhafte Debatte zu erlauben – gerade zu kritischen und anders denkenden Sichtweisen zu ermuntern. Das gibt den Leuten die Wahrnehmung, dass freies Denken möglich ist, während die ganze Zeit die Vorannahmen des Systems bestärkt werden durch die Grenzen, die der Debatte gesetzt werden.“
Die Öffentlichkeit darf verfolgen, was die Diskursobrigkeit mit und unter sich selbst aushandelt. Vielleicht darf sie auch einmal eine Anmerkung machen, in aller Gnade. Obwohl man sich selbst zur demokratischen Seite der Weltgeschichte zählt – allzu weit, sollte Demokratie denn doch nicht gehen.
Was in diesem Text noch nicht mal mehr abgelehnt wird: Jede Überlegung zu kollektiven gegenseitigen Sicherheitssystemen7. Gorbatschows „Gemeinsames Haus Europa8“ ist aus dem Gedächtnis verschwunden, die „Charta von Paris“9 hat es nie gegeben. Deshalb hat auch niemand in den 1990er Jahren diesen Anfang einer neuen Sicherheitsarchitektur zerstört10, die Vergangenheit wird noch nicht mal mehr bereinigt, sie wird auch nicht vergessen, denn vergessen kann man nur, was es einmal gegeben hat.
Verschwindet der Überblick, verschwindet die Vernunft.
Vor einigen Jahren wurde viel über die deutsche Rolle in der Welt diskutiert. Angesichts der gewachsenen Macht der Bundesrepublik innerhalb der Europäischen Union und im internationalen Gefüge solle die Bundesregierung mehr Verantwortung und auch Führung übernehmen, hieß es damals. Diese Forderung wird auch heute noch erhoben. Aber das internationale Umfeld hat sich so verändert, dass Deutschland allein immer weniger ausrichten kann.
Wie schon gesagt, mit „Neue Macht - Neue Verantwortung“ sollte zu einem Start in eine neue deutsche Rolle von weltweiter Bedeutung11 angesetzt werden. Vor allem sollte dabei der Einfluss bei den südlichen und den östlichen Nachbarn der EU ausgeweitet werden, die USA wollten sich schließlich Richtung Asien verabschieden. Es schien sich um einen günstigen Moment zu handeln. – Aber irgendwie ist alles anders gekommen ... In Syrien, wo man schon den „nächsten Tag“12 mitgestalten wollte, bekam man keinen Fuß auf den Boden, in der Ukraine muss man nun ein krankes Regime mitschleppen, im Balkan tauchen die Chinesen auf13. Statt Einfluss zu gewinnen, sind nun Dienste für die Nato im Baltikum und Hilfestellungen für die USA beim Truppentransport in Mitteleuropa angesagt. Eigentlich wollte man mit dem Konzept der Rahmennation14 seinen Einfluss auf andere europäische Streitkräfte ausdehnen.
Nun aber fährt Deutschland den USA vor China mit einem Kanonenboot hinterher.
Es gibt im Text der DGAP nicht den geringsten Hinweis darauf, warum der bisherige Weg nicht erfolgreich war. Noch nicht einmal der Unterschied des neuen Wegs zum alten wird geklärt. So wird der neue Ansatz - von einem neuen Weg wird man kaum sprechen können - schlicht dekretiert. Und so fängt das Dekret mit Trivialitäten an:
Deutschland ist aufgrund seiner wirtschaftlichen Offenheit und internationalen Vernetzung von globalen Entwicklungen, transnationalen Risiken und dem fortschreitenden Systemkonflikt besonders betroffen. Als Handelsmacht in der Mitte Europas ist die Bundesrepublik auf internationale Vernetzung und politische Zusammenarbeit mit der Welt angewiesen. Die EU ist in all dem essenziell. Sie ist Deutschlands engste politische Partnerschaft, die seine Macht und seinen Wohlstand mehrt und z ugleich den politischen Rahmen setzt: Deutschlands geopolitische Position ist eingebunden in Europa.
Die große Zahl von gleichzeitig auftretenden regionalen, transnationalen und globalen Risiken und Herausforderungen, denen sich Deutschland und die EU heute gegenübersehen, erfordert präventives, umfassendes und vor allem rasches Handeln. Die neue Bundesregierung trägt die Verantwortung dafür, Deutschland zu solchem Handeln zu befähigen. Das ist eine umfassende Aufgabe, denn Deutschland und seine Partner in der EU haben sich auf die fundamentalen Veränderungen des internationalen Umfeldes noch nicht so eingestellt, dass sie ihre grundlegenden Interessen schützen können.
Man wird all dem nicht widersprechen können. Nun wären aber ein paar Worte, vielleicht sogar Absätze, zur gegenwärtigen Lage angesagt. Aber es werden nur Axiome benannt, die in der eigenen filter bubble als selbstverständlich gelten. Schließlich hat man sich ihrer Richtigkeit in Texten, die mit Fußnoten versehen sind, gegenseitig hinreichend oft versichert. Das muss alles nicht mehr erklärt werden. Es ist natürlich auch nicht zu prüfen, ob die Weltanschauung der eigenen filter bubble die Ursache für das Scheitern der vergangenen Politik sein könnte. Denn es kann nicht sein, was nicht sein darf.
Um die neuen Handlungsoptionen und den Einfluss zu entwickeln, die im Sinne smarter Souveränität erforderlich sind, muss die neue Bundesregierung:
- den Konflikt, auch den systemischen Konflikt zwischen autoritären Staaten und Demokratien, als Grundton der internationalen Beziehungen für die nächste Dekade akzeptieren. Dennoch sollte sie versuchen, Konfliktaustragung zu begrenzen,
- es als ihre Aufgabe begreifen, in diesem Konfliktumfeld die deutschen und europäischen Interessen zu schützen und durchzusetzen,
- und den dafür notwendigen internationalen Einfluss dadurch schaffen, dass sie klassische Mittel der Außenpolitik mit neuen Instrumenten verbindet und systematisch einsetzt.
Smarte Souveränität und die Diskussionen um strategische Autonomie und europäische Souveränität.
... Deshalb muss sich das Souveränitätsverständnis weiterentwickeln: Das Ziel ist Handlungsfähigkeit, die sowohl unter heutigen als auch zukünftigen Bedingungen Sicherheit, Wohlfahrt und demokratische Ordnung sicherstellt. In vielen Bereichen kann diese Handlungsfähigkeit nur gemeinsam mit anderen Staaten erreicht werden. Die EU spielt dabei aus deutscher Sicht eine entscheidende Rolle. Doch ihr allein diese Handlungsfähigkeit als Aufgabe anzutragen und dies gleichzusetzen mit der Notwendigkeit zur Distanzierung oder sogar Trennung von den USA, wie es immer wieder in der Debatte um strategische Autonomie und europäische Souveränität anklingt, geht zu weit.
Was zu weit geht, geht gar nicht. Dass keine Argumente geboten werden, zeigt wieder, dass das angesprochene Publikum eines ist, das eh schon alles Wesentliche mit den Autoren teilt.
Aber es gibt doch einen kleinen Abriss zur strategischen Lage:
DIE NEUE STRATEGISCHE LAGE
Der Machtkampf zwischen den USA und China, in dem sich machtpolitische, systemische und wirtschaftliche Interessen vermengen, bleibt auf absehbare Zeit die wichtigste internationale Entwicklung. Eine wachsende Zahl von Autokratien steht im Systemkonflikt mit dem politischen Westen. Staaten wie China und Russland üben im Inneren eine zunehmend technologiebasierte Kontrolle über ihre Gesellschaften aus. Nach außen hin stellen sie die bestehen de globale regelbasierte Ordnung in Frage und unterlaufen das Völkerrecht. Sie errichten eigene, zumeist regionale Ordnungsstrukturen, die es ihnen erlauben, ihre Macht zu erhalten und zu mehren.
Die Klassifikation „Demokratie versus Autokratie“ stammt aus Trumps Zeiten. Sein Außenminister Pompeo hat sie in die Welt der kämpferischen Ideologien gebracht15. So ganz falsch ist sie ja nicht: Auf der einen Seite stehen Staaten mit repräsentativen Demokratien, auf der anderen Seite steht das nun entschieden nicht repräsentativ-demokratische China mit der Herrschaft der einen einzigen Partei und Russland, dessen politisches System zwar Elemente der repräsentativen Demokratien kennt, sie aber sehr eng praktiziert.
Andererseits sind die repräsentativen Demokratien des Westens nicht unbedingt darauf ausgelegt, „government of the people, by the people, and for the people” (Abraham Lincoln)16 zu sein. Es ist oft nur die Möglichkeit, aus einer von den Reichen des Landes gestalteten Auswahl von Personen jene auszuwählen, die aus irgendeinem Grund, der in den Medien breit propagiert wird, am besten gefallen17, es sei denn, soziale und politische Bewegungen aus dem „Volk“ besitzen einen solchen Einfluss, dass auf sie Rücksicht genommen werden muss. Ein Land also mit einem sozial faktisch höchst selektivem passiven Wahlrecht. Diese westlichen Demokratien können peu à peu umgebaut, eingeschränkt oder modifiziert werden, je nach Interesse und Bedürfnis der herrschenden Gruppen. Im Falle dieses Textes besteht Demokratie nur noch darin, das von den Experten erkannte Richtige zu tun.
Diese grundsätzliche Möglichkeit schränkt den Gegensatz zu „Autokratien“ Typ Russland ein. Man schreibt Gegensätze hoch und kooperiert doch, wenn es für erforderlich gehalten wird: Türkei, Ungarn, Polen. Die Führungsmacht der Repräsentativ-Demokratien kann nach den Trump-Dramen und den permanenten Angriffen auf das Wahlrecht18 inzwischen selbst als „defekte Demokratie“ angesehen werden19, vielleicht in Maßen. Und der Repräsentativ-Westen hat kein Problem damit, mit Schlächter-Regimen dann zu kooperieren, wenn sie in das eigene Konzept passen, Beispiele überflüssig.
Die politischen Regimes in Russland und China begründen sich durch bestimmte Leistungen für ihre Untertanen: Den Staat stabilisiert zu haben - das eine, Wohlstand für Millionen geschaffen zu haben - das andere. Man mag das als zu wenig ansehen, für die weit überwiegenden Zahl der Angehörigen dieser Staaten scheint das für ihre Folgebereitschaft zu reichen.
So eindeutig ist der Gegensatz also nicht. Eine Schlacht von Gut und Böse findet jedenfalls nicht statt. Es dürfte leichter als Konkurrenz verschiedener kapitalistischer Zentren zu verstehen sein, selbst das China der Kommunistischen Partei20. Und in dieser Konkurrenz soll Deutschland nun Partei ergreifen. Warum eigentlich? Kann man sich nicht fern halten? Das wird nicht geklärt. – Aber es scheint eine Sache von Leben und Tod zu sein.
Diese Konfrontation stellt Deutschland und die EU vor essenzielle Herausforderungen. Die Stabilität und Resilienz des eigenen politischen Systems, der Gesellschaftsformen und Lebensstile, die sich in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg herausgebildet haben, wird in Frage gestellt.
Externe Akteure haben sich längst in die kritischen Infrastrukturen von Politik, Verwaltung, Sicherheit und Verteidigung, Gesellschaft und Ökonomie vorgearbeitet. Länder wie China und Russland setzen gezielt Instrumente hybrider Kriegsführung wie etwa Desinformationskampagnen ein, um demokratische Staaten zu schwächen.
Jeder weiß, dass es Desinformations-„Kampagnen“ aus Moskau und auch Peking gegen die EU, insbesondere gegen Deutschland, gibt, ein Nachweis der Ansagen ist, wie ja auch sonst in diesem Papier, nicht erforderlich. Schaut man sich die Resultate der Arbeit der EU-Abteilung „East Stratcom Task Force“ auf EUvsDisinfo an21, ist das Ergebnis nicht so eindeutig. Sie fallen (mir) dadurch auf, dass sie sehr schlampig gearbeitet sind: Man scheint gar nicht gelesen zu haben, was man als Desinformation bezeichnet22. Oder man bezeichnet alles und jedes als Desinformation, was einem nicht gefällt. Auf die Feststellung eindeutiger Falschbehauptungen beschränkt sich dieser Dienst jedenfalls nicht, er scheint sich vielmehr in einem Krieg zu befinden, in dem auch ihm alles erlaubt ist. Und die deutsche Presse prüft nicht nach, was dieser Dienst schreibt, die deutsche Politikwissenschaft auch nicht. Also kann geschrieben werden, was gefällt.
Oder ist es eine Wissenschaft „externer Akteure"? Wer nur etwas hinschaut, der findet jede Menge Akteure, die beste externe Verbindungen haben: GMFUS zB, die Politiker und Wissenschaftler fördert23, ganz sicher ohne jeden Hintergedanken. Oder doch nicht? Auf die anderen diversen Transatlantiker-Verbindungen seien auch noch hingewiesen24. Sicher alles nur Zufall, und auch nur Zufall, dass solche Netzwerke bei der Betrachtung externer Einflüsse auf die deutsche Politik weg gelassen werden. Zumal mindestens GMFUS mindestens von ferne an der Abfassung dieses Textes beteiligt ist.
Der Zusammenhalt in der EU hat in den vergangenen Jahren abgenommen, obwohl die internationale Lage den Europäern allen Anlass gibt, eng zusammen zu arbeiten. In ihrem Inneren kämpft die EU nicht nur um wirtschaftliche Kohäsion, sondern auch um Rechtsstaatlichkeit und liberale Demokratie. Die Beispiele Ungarn und Polen zeigen, wie sich persönliche, autoritäre Macht Schritt für Schritt zu Lasten der demokratischen Institutionen ausweiten lässt. Transnationale Risiken wie die COVID -19-Pandemie lassen die politische Ordnung zusätzlich fragil und angreifbar erscheinen, weil sie den Eindruck verstärken, dass die politische und wirtschaftliche Offenheit Europas eine Schwäche statt einer Stärke ist.
Viele Staaten in der unmittelbaren Nachbarschaft der EU stehen in immer größerer Abhängigkeit von Russland, China oder auch der Türkei. Der Konfliktbogen, der sich von Osten nach Süden um die EU zieht, hat sich innerhalb kürzester Zeit erweitert und intensiviert. Die Zahl der Krisen, die heute oder in absehbarer Zeit die europäische Lebensweise und Sicherheit in Frage stellen, ist gestiegen. Hinzu kommen ethnische Konflikte, Ressourcenknappheit und ein Brain-Drain, die zu der politischen und wirtschaftlichen Destabilisierung einzelner Staaten und ganzer Regionen in der europäischen Nachbarschaft beitragen. In der Folge gehen Deutschland national und international immer mehr Handlungsspielräume verloren.
Auch hier wäre wieder eine kritische Betrachtung der eigenen Politik angesagt gewesen: Deutschlands Umgang mit den anderen EU-Staaten während der Finanzkrise hat den Zusammenhalt der EU gewiss nicht gefördert. Die anderen Staaten bekamen vielmehr am Beispiel Griechenland vorgeführt, was mit ihnen geschehen kann, wenn sie sich nicht auf der von Deutschland vorgegebenen Linie bewegen wollen. Und die französischen Präsidenten Hollande und Macron mussten erfahren, dass ihre Auffassungen und ihre politischen Ziele in Berlin nicht viel zählen. Die Krisen der EU sind auch als Folge eben deutscher Politik zu verstehen; Deutschland hat seinen Einfluss in der EU durch seine Politik selbst verringert.
Auch an der Zerstörung der Stabilität in den Regionen in der Nachbarschaft Europas hat Deutschland mitgewirkt. Es hat mit der Nato Krieg in Afghanistan geführt und auf diese Weise mit ihren Bündnispartnern eine Flüchtlingswelle nach Europa ausgelöst. Den Krieg in Syrien hat es im Rahmen der „Freunde Syriens“25 mit befeuert. Am verfassungswidrigen Umsturz in der Ukraine hat es sich beteiligt, damit am Griff der Nato nach Sewastopol und der Herrschaft der Nato (= der USA) im Schwarzen Meer. Ein guter Teil der gegenwärtigen Krise ist hausgemacht, ein anderer Teil Folge der mindestens freundlichen Duldung der Kriege und Interventionen der Nato-Partner, insbesondere der USA.
Aber weil es das alles nicht gegeben hat, taucht es als Voraussetzung in den smarten Ratschlägen nicht auf. Es sind also Ratschläge von Einäugigen an Blinde.
Insgesamt muss Deutschland versuchen, kluge Strategien zu formulieren, sie mit Gleichgesinnten innerhalb und außerhalb der EU abzustimmen und dann gemeinsam durchzusetzen. Eine zentrale neue Herausforderung ist es, die globale Transformation in den Bereichen Klima und Digitalisierung ausreichend schnell und zugleich inklusiv, innerhalb liberaler, multilateraler Strukturen zu gestalten. Gleichzeitig sollte Deutschland den Zusammenhalt in der EU stärken. Sowohl abweichende rechtsstaatliche Standards als auch Hürden bei der außen- und sicherheitspolitischen Entscheidungsfindung sollten auf der Agenda der nächsten Bundesregierung stehen. Denn Europas Handlungsfähigkeit nach außen ist direkt an die Handlungsfähigkeit im Inneren gekoppelt.Richtige und/oder leere Aussagen.
Außenpolitik beginnt im Inneren
Hm, Ähnliches konnte man schon bei Clausewitz lesen: Außenpolitik ist Ausdruck von Innenpolitik, von innenpolitischen Machtverhältnissen. Sollte der Satz so gemeint sein, gäbe es sofort die Frage, was das für innere Verhältnisse sein müssen, die solch ein schräges Papier hervor bringen. Es ist also anders gemeint:
Die deutsche Bundesregierung reflektiert im Aufbau ihrer Ressorts und in der Organisation des Regierungshandelns bislang eine strikte Trennung von Innen- und Außenpolitik. Dies hat historische und verfassungsrechtliche Gründe. Die heutigen politischen Herausforderungen lassen sich in dieser Innen-Außen-Dichotomie allerdings immer weniger bewältigen, denn die meisten Handlungsfelder deutscher Politik haben eine internationale Dimension.
Deutschland befindet sich mitten in einer Transformation: Angesichts der politischen Herausforderungen haben die politischen Akteure die Notwendigkeit einer 360-Grad-Perspektive längst erkannt. Die Grenze zwischen Innen und Außen verschwimmt. Zunehmend rückt die internationale Wirtschaftspolitik, internationale Sicherheitspolitik oder internationale Technologiepolitik in den Vordergrund.
Irgendwie war das in Deutschland spätestens seit der Gründung der Montan-Union und der Diskussion um die EVG so. Dann müsste der Unterschied geklärt werden. Aber vielleicht braucht man auch nur einen neuen Alarmismus.
Die historisch gewachsenen und staatsrechtlich begründeten politischen Institutionen und die über die Jahrzehnte entwickelte politische Kultur haben bislang jedoch einen dem Problem angemessenen neuen Lösungsansatz verhindert. Die Koalitionsverhandlungen sind eine Chance, den Weg für mutige politische Innovationen zu bereiten.
NEUE RISIKEN ERFORDERN NEUE ANSÄTZE
Um welche Risiken geht es denn nun genau?
Die neue Bundesregierung muss die inhaltlichen und organisatorischen Voraussetzungen dafür schaffen, unter den folgenden Rahmenbedingungen erfolgreich agieren zu können:
- Innen- und außenpolitische Entwicklungen lassen sich nicht mehr trennen. Die Herausforderungen sind so komplex, dass die politischen Antworten notwendigerweise vernetzt sein müssen. Die großen gesellschaftlichen Herausforderungen – Klimatransformation und Digitalisierung – können nur bewältigt werden, wenn ihre internationale Dimension einbezogen wird.
- Vernetztem Handeln nach außen, in dem alle relevanten Akteure zu einem politikfeldübergreifenden Ansatz beitragen, muss vernetztes Denken und Planen zwischen den Akteuren und über Politikfelder und Zuständigkeiten hinweg im Inneren zugrunde liegen. Darauf sind die Strukturen deutscher Außenpolitik jedoch in vielerlei Hinsicht noch nicht ausreichend ausgelegt.
- Aufgrund Deutschlands gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Offenheit, gepaart mit seiner internationalen Vernetzung und Interdependenz, ist Verwundbarkeit zum Normalzustand geworden. Sektor- und grenzüberschreitende Schocks – auch durch gezielte externe Interventionen – werden sich nicht vermeiden lassen. Die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verwischen. Das staatliche Handeln muss darauf abzielen, die Resilienz von Gesellschaft, Wirtschaft und Demokratie zu stärken, im Inneren wie im Äußeren.
- Dies erfordert auch eine entschiedenere und effektivere Europapolitik. In einem Zustand ideologischer Systemkonkurrenz, globaler Vernetzung und fortschreitender Technologisierung kann kein Staat mehr allein die Sicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger garantieren. Resilienz für Europäer bedeutet daher Resilienz als Europäer.
- Viele Veränderungen der politischen, ökonomischen, gesellschaftlichen und ökologischen Systeme, in die Deutschland eingebettet ist, sind irreversibel. Risiken sind bereits zu Schäden (beispielsweise der Klimasysteme) oder handfesten Bedrohungen (beispielsweise des gesellschaftlichen Friedens) geworden. In vielen Fällen entziehen sie dem System die Grundlage zur Regeneration. Eine Rückkehr zum Status quo ante ist in vielen Fällen nicht oder kaum mehr möglich.
- Im vergangenen Jahrzehnt sind Politik, Ökonomie, Gesellschaft und Ökologie so sehr in eine gegenseitige Abhängigkeit geraten, dass selektive Politikansätze nicht den nötigen Erfolg haben können. Im Zusammenspiel einzelner Politikfelder müssen nicht nur die jeweils angestrebten Ergebnisse aufeinander abstimmt werden, sondern es müssen auch positive oder negative Rückkopplungen in den Blick genommen werden.
Die Autoren hätten den Lesern vielleicht doch ein paar Fußnoten gönnen können, damit sie erfahren, ob es jene Rahmenbedingungen auch gibt oder ob die Autoren nur heiße Luft absondern. Wie steht es mit diesem Satz: „Die Grenzen zwischen Krieg und Frieden verwischen.“? Auf den ersten Blick könnte damit der Krieg im Osten der Ukraine gemeint sein. Dieser Krieg ist jedoch nicht auf einen sektor- und grenzüberschreitenden Schock durch externe Intervention zurückzuführen. Westliche Staaten hatten im Bündnis mit vielen politischen Kräften, auch faschistischen, 2013/14 in der Ukraine versucht, durch einen verfassungswidrigen Regierungswechsel Russland vom Schwarzen Meer zu trennen, den russischen Flottenstützpunkt in die eigenen Verfügungsgewalt zu bekommen. Als der Umsturz auf Widerstand stieß, schickte die illegale Regierung Militär gegen die eigene Bevölkerung – die Ereignisse scheinen vergessen, durch eine ideologische Deutung überlagert, wie die Nato sie 2014 und 2016 für ihre Mitgliedsstaaten beschlossen hat. Die Folge ist eine Gegenwartsdeutung, die durch die Weigerung bestimmt ist, die durch eigene Urteilsschwäche und durch Zockerei erzeugte Niederlage der Bosheit und dem tückischen Wesen der anderen Seite zuschreibt26, schließlich hat diese sich genau so selbstbewusst gezeigt, wie sie es vorher klar gestellt hat27. Die Niederlage wird nicht als Niederlage anerkannt, vielmehr als Aufforderung zu noch größerer Konfrontation (miss-)verstanden, eine eigene und eigenartige Konstruktion von Welt, deren Bezüge zur den realen Abläufen eher locker sind.
Der Absatz mit den Grenzen zwischen Krieg und Frieden, die „verwischen“, wird jedoch so eingeleitet: „Aufgrund Deutschlands gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Offenheit, gepaart mit seiner internationalen Vernetzung und Interdependenz, ist Verwundbarkeit zum Normalzustand geworden.“ Die Grenze zwischen Krieg und Frieden verschwindet als in und/oder für Deutschland. Man müsste also erwarten, dass Russland und/oder China irgendwelche Arten physischer Gewalt, noch dazu von unübersehbarer Größenordnung, gegen Deutschland, seine Einrichtungen und/oder seine Staatsangehörigen ausüben. Davon hat man aber noch nicht gehört. Ist die gewiss nicht sehr angenehme Tätigkeit von Russia Today gemeint? Es wäre weniger als die Präsenz der DDR in Westdeutschland all die Jahrzehnte der Teilung. Spionage mit Hilfe des Internets? Auch unangenehm, aber kein Akt der Gewalt.
Der Sinn dieser seltsamen Formulierung kann dann nur darin liegen, die Deutschen peu à peu nicht nur an eigene Kriege im Äußeren zu gewöhnen, sondern das innere Klima zu beeinflussen: Wir befinden uns (fast) schon im Krieg. – Wir müssen alle unsere Kräfte darauf konzentrieren. Deshalb: Die Zeit für Sozialpolitik ist vorbei. - Der Feind ist schon unter uns! Deshalb: Nicht mehr nachdenken, sondern gerade durch! Ein Konzept, das in der Tradition der „Formierten Gesellschaft“28 steht.
HANDLUNGSFÄHIGKEIT STÄRKEN UND GESTALTUNGSSPIELRÄUME ZURÜCKGEWINNEN
Dann müsste man doch mal nachsehen, warum die eigene „Handlungsfähigkeit“ schwächer wurde und warum „Gestaltunsspielräume“ kleiner wurden und worin sich das alles gezeigt hatte. Und welche Akteure alles daran beteiligt waren, dass Deutschlands Möglichkeiten irgendwie kleiner wurden. Aber von all dem kein Wort, (reaktiv fast) nichts, nada, niente. „Keine Fehlerdiskussion, Genossen!“ (Walter Ulbricht)
Um handlungsfähig zu sein, muss Deutschland den Charakter seiner Außenpolitik verändern: weg von einer reaktiven ad-hoc Politik, die darauf bedacht ist, Schaden einzugrenzen; hin zu einer proaktiven Politik, die systematisch und begründet gestaltet und Chancen nutzt. Dazu braucht die neue Bundesregierung Führungsfähigkeit: Als Partner in der internationalen (Krisen)diplomatie muss Deutschland international anschlussfähige Ziele identifizieren können und mit gutem Beispiel vorangehen. Dies bedeutet auch eine Bereitschaft zu geteiltem Risiko und die Fähigkeit, auch unter großer Unsicherheit Entscheidungen zu fällen.
Es stimmt schon: Die deutsche Politik versuchte in den letzten Jahren immer wieder, mit „Neuer Macht“ und selbstgemachter „Verantwortung“ außen- und militärpolitisch in die Offensive zu kommen. Im Nahen Osten ist es ihr an keiner Stelle gelungen. Was dort geschieht, machen – mit oder ohne Einwilligung der einheimischen Bevölkerung – die USA, Russland und die Türkei unter sich aus, mal spielen die Franzosen von der Seite aus mit. Deutschland und „the day after“ in Syrien – alles bloß feuchte Träume. Auch in der Ukraine gelang es nicht, die Führung beim RegimeChange zu übernehmen, die USA sind in dieser Angelegenheit einfach fitter. – Das soll sich nun ändern.
Aber wie? Dieser ach so kluge smarte Text weiß dazu nichts zu sagen. Deutschland könnte nur mit der EU irgendwo in die Führung kommen, allein reichen die Kräfte nicht. Aber mit jener EU, die erlebt hat, dass sich Deutschland erstmal für sich selbst interessiert und dann noch immer nicht für die EU? Wie soll das gehen? Deutschland stellt sich durchaus selbst im Wege, aber anders, als die von jeder Fehlerdiskussion freien Autoren es meinen. Und es gibt auch keine Aussicht auf Änderung.
Ein deutlich proaktiveres und antizipierendes Regierungshandeln kann jedoch nur gelingen, wenn die gesellschaftliche Akzeptanz dafür gegeben ist. Es ist eine der größten Aufgaben der nächsten Jahre, bei den Bürgerinnen und Bürgern, der Zivilgesellschaft und der Wirtschaft für eine aktive deutsche Außenpolitik zu werben und sie gegen Angriffe von innen und außen zu verteidigen.
Weil für solch ein „proaktiveres und antizipierendes Regierungshandeln“ die eigenen Kräfte nicht reichen und sich Bündnisgenossen, die den Deutschen ihre Kräfte zur Bildung einer neuen Koalition der Mittelmächte oder einer Achse nicht zur Verfügung stellen werden, man hat da nahe und auch ferne Erinnerungen, ist ein „proaktiveres und antizipierendes Regierungshandeln“ nur in einem Modus möglich: Als Vorweg-Nehmen dessen, was andere sich von Deutschland wünschen. Die einen wünschen Deutschland als Aufmarschgebiet gen Russland und als dirigierbaren „Bündnispartner“29, die anderen suchen einen „großen Bruder“, mit dem Rabauken drohen, wenn sie ihre eigenen Scherereien mit Moskau abtoben wollen. Das kommt dann als „Bündnisverpflichtung“ in Deutschland an, wird sogar ernst genommen.
Noch einmal gefragt: Wie soll man da „pro-aktiv“ werden? Aus eigener Initiative Rollbahnen in Europa gen Russland anregen und selbst bauen? Den 2+4-Vertrag mit seiner Pflicht zur militärischen Zurückhaltung auf dem Gebiet der Ex-DDR noch weiter dehnen30, indem zB rotierende Stationierungen von Nato-Truppen in Vorpommern versucht werden? Die Nato-Russland-Grundakte von 1997 ignorieren und Kasernen in Litauen bauen?
Wie soll Deutschland im MENA-Gebiet31 „proaktiv“ werden, wo nicht einmal die USA ihren eigenen Willen durchsetzen können?
Sieht also alles nach heißer Luft aus ... Aber man kann ja mit erhobener Stimme, auch etwas schnarrend, ein hübsches Postulat in die Sipo-Szene pusten:
Deutschland muss auch besser darin werden, Chancen zu erkennen, zu nutzen und sogar zu schaffen, sei es zur Konfliktlösung und -vermeidung, in der Innovationsförderung und Steigerung von Wettbewerbsfähigkeit oder in der multilateralen Zusammenarbeit. Wichtig ist, dass die neue Bundesregierung ein realistisches und verantwortungsvolles Selbstbild und Rollenverständnis entwickelt. Deutschland ist und bleibt der ausschlaggebende europäische Akteur für die Chance auf eine bessere Politik in Europa und in weltweiten Partnerschaften. Sein Machtpotenzial ist immer noch so groß, dass seine Handlungen zählen – nicht, weil es allein Probleme lösen kann, sondern weil Deutschlands Entscheidungen und Handlungen gravierende Folgen für seine Partner und Opponenten haben, manchmal sogar gravierender als für Deutschland selbst. So betrachten auch seine Partner und Rivalen die Bundesrepublik.
Wie wäre es damit, Vorschläge zu formulieren, wie Deutschland beim Lösen von Problem helfen kann?
Auch für die nächste Bundesregierung ist die EU der konstitutive politische, rechtliche und ökonomische Rahmen Deutschlands, den es zu stärken und gegen Angriffe von innen und außen zu verteidigen gilt. Darüber hinaus sollte Deutschland bewährte und essenzielle Partnerschaften und Allianzen, die über die EU hinaus gehen, pflegen – etwa mit Großbritannien, den USA und den Ländern der europäischen Nachbarschaft. Mindestens genauso wichtig wird es sein, ergänzend neue, möglicherweise themenspezifische Netzwerke und Allianzen zu etablieren, um den globalen Politikherausforderungen begegnen zu können. Die deutsche Außenpolitik war immer dann erfolgreich, wenn sie Anknüpfungspunkte bot an die Außenpolitik wichtiger Partner und Gleichgesinnter, sei es bei der Ausgestaltung europäischer Integrationsschritte, der EU-Osterweiterung oder der Verhandlung des Iran-Abkommens (JCPOA).
Verharrt Berlin weiterhin in einer abwartenden Haltung, wird Deutschland als Partner innerhalb der EU, im transatlantischen Verhältnis, in der NATO, der WHO oder anderer Organisationen und Allianzen zunehmend unattraktiv. Deutschlands Handlungsspielräume würden durch eine solche Selbstverzwergung schrumpfen. Das Auftreten der neuen Bundesregierung sollte durch eine Kombination aus Handlungswillen, Weitsicht und kontrollierter Risikobereitschaft bestimmt sein.
Auch wenn es mal konkreter wird, es wird nicht besser.
Empfehlungen
Bundestagswahlen als Gelegenheitsfenster
Eine Politik der kleinen Schritte – also ein Weiter-wie-bisher – in den nächsten vier Jahren wird nicht ausreichen, um Deutschlands Handlungsfähigkeit zu stärken und neue Handlungsspielräume zu eröffnen. Die Bundestagswahlen und anschließenden Koalitionsverhandlungen sind die Chance, den Status quo kritisch zu überdenken und die deutsche Außenpolitik zu erneuern.
Um Impulse zu liefern, wie eine solche Erneuerung gelingen kann, haben unter Leitung der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik von Ende 2020 bis Sommer 2021 eine Reihe namhafter deutscher Expertinnen und Experten in einer Strategiegruppe Handlungsempfehlungen an die neue deutsche Bundesregierung entwickelt. Die folgenden Empfehlungen decken nicht alle für Deutschland wichtigen Politikfelder ab, sondern stellen eine Selektion dar. Der Ansatz, der den Em pfehlungen zu Grunde liegt, hat jedoch Implikationen für das gesamte außenpolitische Handeln der Bundesrepublik und für die Art und Weise, wie alte und neue Partnerschaften gestaltet werden sollten. Aus unserer Sicht sollten folgende Aufgaben Priorität haben:
- Die Strukturen deutscher Außenpolitik reformieren
- Sicherheit und Verteidigung umfassend gestalten
- Die deutsche Wirtschaft stärken und die Globalisierung gestalten
- Im Systemwettbewerb mit China bestehen
- Sich im weltweiten Technologie-Wettbewerb behaupten
- Innere Resilienz stärken und Angriffe auf Demokratie und Gesellschaft abwehren
- Deutschland zu einer führenden Klimanation machen
- Den Konfliktfolgen des Klimawandels entgegenwirken
- Eine wirksamere und humanere Asyl- und Migrationspolitik verwirklichen
- Dem westlichen Balkan eine neue europäische Perspektive geben
Wir unterbreiten konkrete Vorschläge, wie in den genannten Themenfeldern die deutsche und europäische Handlungsfähigkeit verbessert werden kann. Für jedes Thema analysiert ein Aktionsplan die zentralen Herausforderungen und Chancen für die deutsche Politik. Diese Aktionspläne unterscheiden zwischen Analyse-, Koordinierungs- und Umsetzungsproblemen. Sie enthalten konkrete Empfehlungen, welche Ziele die deutsche Außenpolitik mit welchen Instrumenten und Partnern kurz, mittel- und langfristig verfolgen sollte. Diese Vorschläge bewegen sich im Spannungsverhältnis zwischen dem unbedingt Notwendigen und dem kurz- und mittelfristig Umsetzbaren. Angesichts der internationalen Herausforderungen darf der deutsche Wunsch nach Perfektion nicht der Feind des Guten sein.
Russland wird nicht erwähnt, eine kooperative europäische Sicherheitspolitik auch nicht, beste Voraussetzungen dafür, dass es wieder mal schief gehen wird.
Erster Eindruck also: Man lebt in einer eigenen Welt, die man sich selbst geschaffen hat: Deutschland ist von Feinden umgeben, der Feind ist schon mitten in den eigenen Reihen, man muss entschlossen handeln, dann findet man auch Bündnispartner und kann entschieden die Welt gestalten. Wahn mit Methode.
Realität wäre: Deutschlands wichtigster „Bündnispartner“ hat in den letzten Jahrzehnten alles unternommen, was ihm möglich war, weite Landstriche der Welt zu destabilisieren und damit der Sicherheit Europas und Deutschlands schwer geschadet. Damit das nicht so auffällt, wurde ein Feind geschaffen, gegen den auch die letzten Nachfolger unsympathischer osteuropäischer Regimes der Nachkriegszeit eingesammelt werden können. Und mit deren Hilfe wiederum wird Deutschland in Stellung gebracht. Aber irgendwie merken viele Leute in Deutschland, dass da was nicht so ganz stimmt und spielen nicht mit. Wie macht man dann nun solche Randale, dass diese Skeptischen nicht mehr den Ton in Deutschland bestimmen können?
Nichts ist hier wirklich neu: Seit Adenauer geht es deutscher Politik darum, durch Anpassung an Politik und Macht der USA und ihrer Verbündeten Aufstieg und vielleicht sogar Souveränität zu gewinnen. Allerdings: Deutschland sollte nun mit Krach auf sich aufmerksam machen, vielleicht lieben die anderen es dann und folgen ihm sogar.
– Aber alles kann gefährlich werden.
(Forts. folgt)
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Fußnoten
- ...politics 1
- https://www.univie.ac.at/sowi-online/esowi/cp/propaedpowi/propaedpowi-3.html,
- ... so2
- https://dgap.org/de/ueber-uns. Zu den Aufgaben dieser Gesellschaft gehört auch die Verbreitung solcher Texte, die deshalb nicht sofort als Propaganda auffallen, weil sie Fußnoten verwenden, dazu an einem Beispiel https://friedenslage.blogspot.com/2021/02/bemerkungen-zu-russias-strategic_24.html.
- ... Verantwortung“3
- https://internationalepolitik.de/de/neue-macht-neue-verantwortung
- ... leben?4
- Dazu Hannah Arendt, Was ist Politik? S. 9.
- ... Alternative)5
- Das TINA-Prinzip, https://de.wikipedia.org/wiki/Alternativlos
- ... Chomsky6
- https://www.vordenker.de/blog/?p=1078
- ... Sicherheitssystemen7
- https://de.wikipedia.org/wiki/Kollektive_Sicherheit
- ... Europa8
- https://monde-diplomatique.de/artikel/!5533608
- ... Paris“9
- https://de.wikipedia.org/wiki/Charta_von_Paris, http://www.bundestag.de/blob/189558/21543d1184c1f627412a3426e86a97cd/charta-data.pdf
- ... zerstört10
- s. Diskussionsveranstaltung in Münster: „Frieden durch eine Politik der Stärke und Konfrontation?“, Diskussion Johannes Varwick und Jürgen Wagner, https://www.youtube.com/watch?v=DzDFMi1TYAQ, eine lehrreiche Veranstaltung über die Genese gegenwärtiger Krisen.
- ... Bedeutung11
- s.o.
- ... Tag“12
- https://www.swp-berlin.org/publications/products/fachpublikationen/WeltTrends87_Forum_Muriel_Asseburg.pdf, http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Syrien/thedayafter.html, https://marjorie-wiki.de/wiki/The_Day_After_(Syrien)
- ... auf13
- https://www.mdr.de/nachrichten/welt/osteuropa/politik/neue-seidenstrasse-china-balkan-100.html, https://www.nzz.ch/meinung/nun-auch-noch-polizisten-china-macht-sich-auf-dem-balkan-breit-ld.1532143
- ... Rahmennation14
- https://www.bpb.de/politik/grundfragen/deutsche-verteidigungspolitik/290423/rahmennationenkonzept
- ... gebracht15
- Beispiel: https://www.sueddeutsche.de/politik/pompeo-nato-berlin-mauerfall-deutschland-1.4673795
- ... Lincoln)16
- http://demokratiezentrum.org/index.php?id=2155
- ... gefallen17
- http://www.demokratiezentrum.org/themen/demokratiemodelle/elitendemokratie.html
- ... Wahlrecht18
- https://www.fr.de/politik/us-wahl-2020-donald-trump-joe-biden-usa-washington-diskriminierung-wahlrecht-usa-90061057.html, https://www.msn.com/de-de/video/other/gravierende-%C3%A4nderungen-am-wahlrecht-us-republikaner-setzen-sich-durch/vi-AAOdoXc, https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/us-wahlrecht-georgia-101.html, https://www.wallstreet-online.de/video/14276060-usa-aenderungen-wahlrechts-41-staaten, https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/biden-texas-wahlrechtsreform-101.html, https://www.rnd.de/politik/texas-umstrittenes-verschaerftes-wahlrecht-beschlossen-6PBL23K2UETX6VHWAMRDLHW36Y.html
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- Obwohl die USA in dieser Theorie nicht mit aufgezählt werden, s. https://de.wikipedia.org/wiki/Defekte_Demokratie.
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- ... fördert23
- Eine interessante Liste: https://de.wikipedia.org/wiki/German_Marshall_Fund
- ... hingewiesen24
- Die Anstalt ZDF: Transatlantische Netzwerke und Deutsche Medien, https://www.youtube.com/watch?v=y_bmegfMyVI; Uwe Krüger: Immer einer Meinung – Wie Alphajournalisten die politische Debatte bestimmen, https://www.blaetter.de/ausgabe/2016/august/immer-einer-meinung
- ... Syriens“25
- https://de.wikipedia.org/wiki/Freunde_Syriens
- ... zuschreibt26
- Sie hatte 2014 der westlichen Seite mitgeteilt, dass es „rote Linien“ gibt. Aber wo käme man hin, wenn man darauf Rücksicht nähme, es gar in eine eigene verantwortungsbewusste Politik einbezöge? Das geht nun gar nicht!
- ... hat27
- https://www.ipg-journal.de/kommentar/artikel/putin-reagiert-560/
- ... Gesellschaft“28
- https://www.kas.de/de/web/geschichte-der-cdu/formierte-gesellschaft, https://www.blaetter.de/sites/default/files/downloads/zurueck/zurueckgeblaettert_201603.pdf, http://www.triller-online.de/g0934.htm
- ... „Bündnispartner“29
- Eben das, was schon die alten Römer von ihren Bündnispartnern verlangten.
- ... dehnen30
- https://friedenslage.blogspot.com/2021/09/friedenslage-am-02092021-131514.html
- ... MENA-Gebiet31
- https://de.wikipedia.org/wiki/MENA-Region