Montag, 15. Juli 2024

Friedenslage am 15.07.2024 (15:29:33)

Arno Gottschalk, Mitglied der Bürgerschaft in Bremen (SPD) zu den neuen
Mittelstreckendingern.
https://x.com/ArnoGottschalk/status/1812588028411740280

Sehr lesenswert.

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| Herr Hein (@aufmacher), den ich als einen Schreiber für BILD kennen gelernt
| habe, folgt mir bereits seit Längerem – wobei aggressives Stalken, zumindest
| nach meinem Empfinden, wohl die angemessenere Beschreibung wäre. Normalerweise
| ignoriere ich ihn. Da wir bei den neuen Mittelstreckenraketen am Beginn einer
| Diskussion stehen, bei der ich noch manche unsachlichen Anwürfe erwarte, nehme
| ich seinen Tweet aber zum Anlass für eine ausführlichere Entgegnung und
| Darstellung.
|
| 1. Ich befasse mich mittlerweile seit mehr als 40 Jahren mit Fragen von Militär
| und Rüstung, Krieg und Frieden. Anfänglich sehr intensiv, zwischenzeitlich
| weniger, zuletzt wieder mehr. Ich habe mich dabei schon für eine (gänzlich)
| atomwaffenfreie Zone in Europa eingesetzt, als noch niemand im Entferntesten
| daran dachte, dass es so etwas wie X / Twitter einmal geben würde.
|
| 2. Ich war deshalb auch sehr froh, als sich Reagan und Gorbatschow 1987 in der
| Tau-Phase des Kalten Krieges darauf einigten, mit dem INF-Vertrag die – im
| Hinblick auf Fehler und Fehleinschätzungen – gefährlichste atomare Waffenart,
| die Mittelstrecken, gänzlich abzuschaffen – und zwar sowohl für die Strecken 500
| – 1.000 km als auch von 1.000 bis 5.000 km.
|
| 3. Als Russland 2016 (im Manöver) bzw. 2018 die Stationierung nuklearfähiger
| Iskander-Raketen in der Enklave Kaliningrad einräumte, fand ich das bedenklich,
| war aber nicht alarmiert. Laut den Zeitungsberichten überschritt die Reichweite
| nicht die verbotenen 500 km.
| https://faz.net/aktuell/politik/ausland/nach-langer-geheimhaltung-russland-bestaetigt-iskander-raketen-in-kaliningrad-15574438.html
| Die Raketen konnten zwar Warschau und Berlin erreichen. In Deutschland lagerten
| zur Abschreckung aber auch Atombomben. Schon damals aber wurde auch klar, dass
| der russische Stationierungsschritt in Verbindung stand zu einem von den USA in
| Rumänien installierten (und für Polen geplanten) Raketenabwehr, das von Russland
| nicht als Verteidigungssystem angesehen
| wurde. https://faz.net/aktuell/politik/putin-ueber-raketenabwehr-in-osteuropa-das-ist-kein-verteidigungssystem-14232633.html
| Dass Russland auf die (damals noch geplante) Raketenabwehr mit der Stationierung
| von Raketen in Kaliningrad antworten werde, wurde bereits 2008
| angedroht. Gleichzeitig wurde eine Nulllösung angeboten: keine US-Raketenabwehr,
| keine Iskander in Kaliningrad. Verteidigung: Russland schlägt "Null-Lösung" für
| Raketenstationierung vor (http://tagesspiegel.de) Dieses Angebot wurde von den
| USA nicht aufgenommen.
|
| 4. 2018 entschieden sich die USA dann unter Trump überraschend dafür, den
| INF-Vertrag in 2019 auslaufen zu lassen. Begründet wurde dies mit dem Vorwurf,
| Russland habe Iskander-Raketen mit größerer Reichweite entwickelt. Eindeutige
| Beweise dafür gab es nicht. Von der Bundesregierung, die von Trumps Entscheidung
| kalt erwischt, wurde noch der Versuch unternommen, den Vertrag zu
| retten. https://kas.de/de/web/auslandsinformationen/artikel/detail/-/content/der-anfang-vom-ende
| Nach dem vergeblichen Bemühen drehten die Europäer dann bei und stellten sich
| hinter die Kündigung, offenbar um die ohnehin strapazierten Beziehung zum
| unberechenbaren Trump nicht weiter zu belasten. Im August 2019, wenige Tage nach
| dem Auslaufen des INF-Vertrages führten die USA einen ersten Test mit einem
| Marschflugkörper mit 1.000 km Reichweite durch.
| https://x.com/jeff_martinca/status/1163482959732760576?s=46&t=l5ewVy1ZLpqpGyeJFZNJHw
|
| 5. Im Oktober 2020 wurde von russischer Seite ein gemeinsames
| Verifizierungsverfahren vorgeschlagen: für die Iskander 9M729 in der
| Kaliningrad-Region, die nach US-Vorwürfen größere Reichweiten als 500 km haben
| soll; und für Aegis Ashore Raketenabwehrsystem in Rumänien, bei dem Russland
| speziell den Launcher K-41 als potentielle Startvorrichtung für Angriffsraketen
| sieht.
| https://russiaeu.mid.ru/en/press-centre/news/statement_by_russian_president_vladimir_putin_on_additional_steps_to_de_escalate_the_situation_in_eu/
| Auch dieser Vorschlag wurde von den USA nicht aufgegriffen.
|
| 6. Die russische Seite behauptet bis in die jüngste Zeit, dass sie sich an die
| Bestimmungen des INF-Vertrages gehalten habe und weiterhin halten werde, so
| lange von den USA keine gegenteiligen Schritte unternommen würden.
|
| 7. Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), das wichtigste
| sicherheitspolitische Beratungsinstitut der Bundesregierung, schrieb noch 2023,
| dass „ seit mehreren Jahren darüber spekuliert werde, dass die Reichweite… (von
| Iskander M )..über 500 km hinausgeht". Offenbar hatten das Institut und die
| Bundesregierung keinen Beleg dafür. In dem selben Aufsatz heisst es, dass das
| einzige russische System, dass einer ballistischen Mittelstreckenrakete gleicht,
| die Kinschal-Rakete mit einer Reichweite von etwa 1.500 bis 2.000 km sei.
| https://www.swp-berlin.org/10.18449/2023A40/#:~:text=Das%20einzige%20russische%20System%2C%20das,etwa%201.500%20bis%202.000%20Kilometern
|
| 8. Die Kinschal wird von einem Flugzeug gestartet und ist damit eine
| luftgestützte Rakete, die ebenso wie die seegestützten Raketen nicht dem
| INF-Vertrag unterlagen.
|
| 9. Fazit: Es gibt bislang zwar westliche, vornehmlich amerikanische
| Behauptungen, dass Russland mit der Iskander 9M729 den INF-Vertrag verletzt habe
| und Raketen im Mittelstreckenbereich besitze. Selbst die SWP (siehe 7.) spricht
| aber von Spekulationen. Russische Angebote für Verifizierungsmaßnahmen vor Ort
| wurden von den USA nicht aufgegriffen.
|
| 10. Mit der geplanten Aufstellungen amerikanischer Mittelstreckenraketen in
| Deutschland werden auf jeden Fall Gegenmaßnahmen von russischer Seite
| erfolgen. Im Ergebnis würde dadurch wieder die gefährliche Situation entstehen,
| die mit dem INF-Vertrag überwunden werden sollte und der deshalb gerade den
| Deutschen und Europäern so besonders am Herzen lag.
|
| 11. Aktuell ist zwar nur von „konventionellen" Systemen die Rede. Es ist aber
| zum einen unklar, ob und mit welchem Aufwand die Raketen auch mit
| Nuklearsprengköpfen bestückt werden können. Wenn das bei russischen Raketen
| möglich ist, wird das auf hiesiger Seite kaum anders sein. Unklar ist deshalb
| auch, ob dies alleine eine amerikanische Entscheidung sein könnte oder
| Deutschland ein Mitsprache- und Kontrollrecht haben soll. Zum anderen ist es
| natürlich nicht zwingend, dass Russland ebenfalls mit konventionellen Raketen
| reagieren würde. Obendrein würden sich beide Seiten ohne Konsultationsmaßnahmen
| nicht gegenseitig trauen, dass die Gegenseite auf nukleare Sprengköpfe
| verzichtet.
|
| 12. Mit der Stationierung würde es daher auch wahrscheinlicher, dass aus
| konventionell schnell nuklear wird. Jenseits der Frage, wie genau die
| Einsatzdoktrinen dieser Mittelstreckenwaffen aussehen würden, entstände dann
| wieder das grundlegende Kardinalproblem: aufgrund der kurzen Strecken und
| Flugzeiten steigt nicht nur das Risiko, überrascht zu werden, sondern genau
| deshalb auch das Risiko, aufgrund von Fehlern und Fehlwahrnehmungen eine
| Katastrophe auszulösen.
|
| 13. Wie es aussieht, sollen die neuen Mittelstreckenraketen nur in Deutschland
| stationiert werden. Es handelt sich offenbar nicht um eine Bündnisentscheidung
| der NATO-, sondern um eine rein bilaterale Abmachung zwischen den USA und
| Deutschland. Aufgrund der absehbaren Gegenmaßnahmen sind Raketen immer auch
| Magneten – und warum sich Deutschland allein dieser Gefahr aussetzen soll und
| will, ist für mich nicht nachvollziehbar.
|
| 14. Wer die jetzigen Pläne mit der Nachrüstung in den 1980er Jahren vergleicht,
| sollte beachten, dass es aktuell keinen „Doppelbeschluss" gibt, wonach die
| Stationierung unter bestimmten Bedingungen, die die Gegenseite erfüllen soll,
| rückgängig gemacht werden soll.
|
| 15. Bei den in Deutschland lagernden Atombomben versucht Deutschland seit langem
| vergeblich, eine Mitentscheidungsregelung zu erhalten. Ob dies bei den
| Mittelstreckenraketen anders sein soll, gehört ebenfalls zu den ungeklärten
| Fragen.
|
| Wer angesichts dieser Hintergründe, potentiellen Risiken und offenen
| Fragen die geplante Stationierung ohne Wenn und Aber begrüßt und Kritiker
| schmäht, sollte deshalb nochmals in sich gehen und seine Denkbegabung nutzen.
`----

Bisherige halbwegs ernst zu nehmende Kritik: Null. Bemerkenswert, weil Twitter
ein schnelles Medium ist. - Es gibt aber die Forderung, die Diskussion nicht zu
führen, sondern die Stationierung einfach durchzudrücken.



Fabian Hoffmann (eine neuerdings recht beachtete Figur in der deutschen
Kriegsblase, Doktorand in Oslo)
https://x.com/FRHoffmann1/status/1812110399451582954

,----
| The lack of a public debate on the deployment of INF-range missiles in
| (Deutschland) has been criticized.
|
| But such a debate would have been counterproductive. Why?
|
| 1) It would have been more damaging than helpful
| 2) It would have undermined our credibility
| 3) There was no need for it
`----

Es folgt ein langer Tweet: Die Öffentlichkeit könnte sich aufregen und die
Russen könnten gestärkt werden. -- Rüstung ist nun mal auch
demokratiegefährdend.





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